Aktuelles von Tokio 2020
Krawzow und Engel triumphieren über 100 Meter Brust
Im schwersten Jahr ihrer Karriere sicherte sie sich den größtmöglichen Triumph: Elena Krawzow krönte sich auf den 100 Metern Brust zur Paralympics-Siegerin! Im Februar erhielt die sehbehinderte Schwimmerin mit Morbus Stargardt – das Zentrum der Netzhaut (Makula) ist degeneriert – die Diagnose, dass ihre Augen noch mehr an Sehkraft verloren haben. Dann kam es 2021 auch noch zu einer sehr widersprüchlichen Klassifizierung: Obwohl die Sehkraft Krawzows abnahm, wurde sie von der S12 in die S13 klassifiziert - zu den besser Sehenden. „Das ist schon ein Widerspruch, den man erst mal verkraften muss“, sagte Ute Schinkitz, die Bundestrainerin des deutschen Para Schwimm-Teams vor Tokio. „Das habe ich gar nicht verstanden“, erzählte auch Krawzow vor ihren dritten paralympischen Spielen. „Es ist ein ewiges Hin und Her bei allen Athleten: Mal schwimmt man in der Startklasse 12, dann wieder in der 13. Wir sind alle schon gegeneinander geschwommen“, erzählte die 27 Jahre alte Athletin vom Berliner Schwimmteam.
Dass sie sich allen Strapazen des Jahres 2021 zum Trotz nicht hat unterkriegen ließ, bewies Krawzow am Mittwoch eindrucksvoll: Im Vorlauf wurde die gebürtige Kasachin locker Erste und schlug nach 1:15,31 Minuten an. „Bei mir war das Ziel heute Morgen, dass ich beim Vorlauf nicht zu viel Kraft verschwende und mir dann ein bisschen was für abends übrig lasse“, sagte Krawzow. Die ersten 50 Meter schwamm sie „ziemlich entspannt“, um dann abends fokussiert Gas geben zu können. Doch auch im Endlauf dauerte es, bis die 27 Jahre alte Schwimmerin Tempo aufnehmen konnte: Bei der Wende lag sie fast eine Sekunde hinter der Britin Rebecca Redfern zurück. „Die erste Bahn ist leider mein Problem. Ich kam nicht so richtig in Fahrt“, sagte Krawzow, für die das Rennen am liebsten über 200 Meter gehen sollte. „Aber wir sind hier ja nicht bei Wünsch-dir-was“, sagte die strahlende Paralympicssiegerin. „Ich habe eigentlich gar nicht realisiert, dass die Britin vor mir war. Ich habe einfach alles gegeben und habe gehofft, dass es reicht.“ Auf den zweiten 50 Metern überflügelte die Berlinerin Redfern, die am Ende Silber gewann, und kam nach 1:13,46 Minuten im Ziel an.
Nach Krawzows überraschender Silbermedaille 2012 wurde sie 2016 in Rio de Janeiro Fünfte: „Da war ich krass enttäuscht, das war meine erste richtige Niederlage.“ Daraus habe sie viel gelernt, die Erfahrung habe sie rückblickend sogar gestärkt. Nun krönte sie ihre Karriere in Tokio mit Gold. „Ich habe in den zehn Jahren meiner Karriere Weltmeistertitel, Europameistertitel und etliche Weltrekorde geholt - das Gold bei den Paralympics war das einzige, was mir noch gefehlt hat. Dass es in Rio nicht geklappt hat und heute dann doch, macht es für mich umso schöner.“ Auch den Marathon durch die zahlreichen Interviews nimmt Krawzow mit Humor, sie sei auf alles vorbereitet. Nur eine kleine, nicht ganz ernst gemeinte Sorge hätte sie nach diesem eigentlich perfekten Abend: „Die Medaille ist echt schwer. Ich hoffe, ich habe morgen keinen Muskelkater.“
Der Gold-Engel und das zahme Biest: Taliso Engel dominiert auf den 100 Metern Brust
„Ich fühle mich so ein bisschen gejagt. Es ist auch ein bisschen mehr Druck als Welt- und Europameister in die 100 Meter Brust reinzugehen. Es ist nicht ganz so locker und easy wie bei den Weltmeisterschaften 2019. Da war es komplett überraschend“, sagte Taliso Engel einige Tage vor seinem großen Finale über die 100 Meter Brust (SB13). Die Jäger auf Engels Paradestrecke haben ganz große Namen: Zum einen ist da der US-Amerikaner David Henry Abrahams, der mit 1:04,07 Minuten die schnellste Zeit des Jahres vor den Paralympics schwamm. Und zum anderen gibt es Ihar Boki, der auch „das Biest“ genannt wird: Vor dem Brust-Finale startete der Belarusse auf fünf verschiedenen Strecken im Aquatics Centre von Tokio und gewann dabei fünf mal Gold. Am Mittwoch sollte aber keine Medaille zur Sammlung vom Biest hinzukommen, Silber ging an Abrahams und Bronze an den Kasachen Nurdaulet Zhumagali. Der große Triumphator war aber der erst 19 Jahre alte Taliso Engel aus Nürnberg.
Bereits im Vorlauf ließ der Schwimmer der SG Bayer gehörig die Muskeln spielen: Mit 1:03,52 Minuten stellte er einen Weltrekord auf. „Es hat sich richtig krass angefühlt. Wir hatten eigentlich gesagt, dass ich easy ins Finale schwimmen soll. Also halbwegs entspannt schwimmen und trotzdem zeigen, dass etwas geht heute. Also ein Mix aus beidem“, sagte ein sichtlich von seiner eigenen Leistung geflashter Engel. Eine Kampfansage gab es vom 19 Jahre alten Schwimmer vor dem Finale aber nicht zu hören: „Das Ziel bleibt eine Medaille, irgendeine. Welche ist mir egal“, sagte Engel, der in Tokio an seinen ersten paralympischen Spielen teilnimmt. Im Endlauf ging es dann richtig eng zu: Bei der Wende lag Engel zwei Hundertstel vor dem US-Amerikaner, um dann auf den zweiten 50 Metern förmlich davonzufliegen. „Auf der ersten Bahn habe ich den Amerikaner ein bisschen wahrgenommen, auf der zweiten Bahn dann überhaupt nicht, da habe ich mich einfach auf mein Rennen konzentriert.“ Im Ziel standen dann 1:02,57 Minuten auf der Anzeigetafel: Engel hatte seinen Weltrekord vom Vormittag pulverisiert. „Ich habe mich großartig gefühlt im Rennen, ich habe aber niemals mit der Zeit gerechnet. Die ersten 50 Meter haben sich sehr gut angefühlt, die zweiten nochmal ein bisschen besser als heute Morgen. Ich bin einfach froh, dass jetzt alles so ausgegangen ist“, sagte Engel und hielt die Goldmedaille dabei unentwegt ganz fest in seiner rechten Hand. „Es ist krass, die Medaille wiegt echt ein bisschen was“, sagte der 19 Jahre alte Mittelfranke, der von starker Gänsehaut während der Medaillen-Übergabe berichtete. „Es war ein besonderer Moment auf dem Podest zu stehen, die deutsche Hymne zu hören. Ich habe das sehr genossen. Es fühlt sich einfach unfassbar gut an.“ Sorgen hatte Engel ein bisschen um sein Handy: „Das ist gerade irgendwo beim Rest vom Team und immer noch im Flugmodus. Das wird wegen der ganzen Nachrichten später explodieren oder abstürzen“, scherzte Engel, der sich besonders auf eine ruhige Minute freue, um mit seiner Mutter telefonieren zu können. Doch zuvor ging es erst mal ins Deutsche Haus: „Ich freue mich einfach drauf, vom gesamten deutschen Team empfangen zu werden.“
Endrolath und Kaps mit guten Leistungen in ihren Finals
Im gleichen Endlauf wie Krawzow stand Marlene Endrolath, die bei ihren ersten Paralympics zwei Finals erreichen konnte. Nach dem siebten Platz über die 200 Meter Lagen vom Sonntag wurde die 20 Jahre alte Athletin vom Berliner Schwimmteam über die 100 Meter Brust Achte. Zeitlich konnte sie sich zudem im Vergleich zum Vorlauf, in dem sie am Mittwoch 1:21,81 Minuten brauchte, deutlich verbessern: Nach 1:20,79 Minuten war Endrolath im Ziel und stellte damit eine persönliche Bestleitung auf. Dennoch wurmte sie sich über die Zeit: „Ich wäre gerne unter 1:20 geschwommen.“
Mira Jeanne Maack, die jüngste im deutschen Team, verpasste ihr viertes Finale bei ihren ersten Paralympics nur ganz knapp. Die 17 Jahre alte Schwimmerin kam über die 100 Meter Brust (SB7) zwar nach 1:41,20 Minuten ins Ziel, allerdings wurde Maack disqualifiziert. „Ich weiß es nicht genau, aber ich kann mir vorstellen, dass etwas bei meinem Beinschlag falsch war. Das ist immer so ein Problem, weil ich meine Beine so bewege, dass es ein bisschen aussieht wie Delphin-Kicks.“ Mit ihrer Einschätzung lag die junge Athletin vom Berliner Schwimmteam richtig, auch ein Protest des deutschen Teams konnte nichts mehr daran ändern. Doch auch ohne das Brust-Finale waren es sehr gelungene Wettkämpfe für Maack.
Eine persönliche Bestleistung im ersten paralympischen Finale stellte ihr Vereinskollege Justin Kaps auf: Der Berliner brauchte 4:15,85 Minuten über in 400 Meter Freistil (S10) und wurde starker Siebter. „Ich bin sehr erleichtert. Ich habe alles rausgehauen, was ging“, sagte der 20 Jahre alte Schwimmer. Im Finale boten sich Kaps und der Pole Alan Ogorzalek einen langen und kräftezehrenden Kampf um den siebten Platz. „Ich hatte mir vor dem Rennen vorgenommen, dass ich vor ihm bleibe“, sagte Kaps, der gegen Ende hin mehr und mehr zulegen konnte, Ogorzalek hinter sich ließ und beinahe noch den Franzosen Florent Marais einholte. Die erste Teilnahme an den Paralympics, das erste Finale und eine persönliche Bestleistung noch oben drauf: „Ich bin sehr zufrieden.“ Und das zu Recht.
Patrick Dirrigl