Aktuelles aus dem Bereich Sportentwicklung
Teilhabe VEREINfacht: Die Inklusionsmacher unter Wasser
Mitgliederschwund, Kostendruck, Platznot: In Zeiten, in denen viele Sportvereine kämpfen, um sich über Wasser zu halten, taucht ein kleiner Berliner Verein regelmäßig ab für seine Mission, die da lautet: Durch Tauchen die künstlichen Grenzen zwischen Beeinträchtigung und Nichtbeeinträchtigung überwinden helfen. Menschen mit und ohne Behinderung sind hier nicht nur Tauchpartner, sondern unterstützen und vertrauen einander – auf Augenhöhe und mit Verantwortung. Der Weg, wie der 1. Berliner Inklusions-Tauchclub e.V. entstand und seitdem Hürden überwindet, zeigt auf, was Inklusionssport bewegen kann.
Es sind die Liebe zum Tauchsport und die Vision, Tauchen für alle Menschen erlebbar zu machen, die Alfred-Georg Anlauf im Jahr 2015 veranlassen, den 1. Berliner Inklusions-Tauchclub e.V. zu gründen. Seine ersten inklusiven Taucherfahrungen machte Anlauf, als er in einem großen Berliner Schwimmverein als Ausbildungsleiter tätig war. „Der Vereinspräsident bat mich, eine Tauchabteilung aufzubauen“, erinnert sich der ausgebildete Tauchlehrer. Dadurch sei er in Kontakt mit der bereits bestehenden Schwimmgruppe für behinderte Menschen gekommen und habe erstmalig auch Menschen mit Behinderung das Tauchen gelehrt. „Der Präsident selbst hatte eine Armamputation, er war einer meiner ersten Tauchschüler mit Behinderung.“ Als Anlauf erfährt, dass Menschen mit Behinderung in kommerziellen Tauchschulen häufig keinen Platz finden, gründet er kurzerhand einen eigenen Tauchclub, der vor allem jenen eine Plattform bieten soll, die im Alltag oft mit Barrieren konfrontiert sind. „Die Idee zur Vereinsgründung entstand gemeinsam mit einigen meiner Tauchschüler, die zum Teil auch eine Behinderung haben“, erklärt Anhalt. „Wir wollten einen Raum für soziales Miteinander schaffen, unabhängig von Altersklassen, sozialer Herkunft und Nationalität, in dem wir unser Interesse für den Tauchsport miteinander teilen können. Bei uns ist das Außergewöhnliche die Normalität.“ Aktuell hat der Club rund 35 Mitglieder, 70 Prozent davon sind Menschen mit einer Behinderung.
Gemeinschaft unter Wasser
Geht nicht, gibt’s nicht. Um möglichst allen Interessierten Unter-Wasser-Erfahrungen zu ermöglichen, bedient sich das Berliner Tauchteam speziell angepasster Ausrüstung, wie Atemgeräte, die den Druckausgleich erleichtern oder Auftriebshilfen. Zur Kommunikation unter Wasser werden, bei Bedarf und alternativ zu den gängigen Tauchhandzeichen, Drucksignale am Arm sowie Blinzelzeichen eingesetzt. Auch beim Thema Sicherheit und Betreuung unter Wasser gibt es klare Regeln. Abhängig vom Behinderungsgrad (H1-H3) wird jedem Taucher oder Taucherin mindestens ein Buddy zur Seite gestellt. Blinde Taucher oder Taucher mit Amputationen aller Gliedmaßen tauchen grundsätzlich mit drei Begleittauchern. Der Material- und Personalaufwand ist enorm. Doch er lohnt sich. „Die Bewegung beim Tauchen in der annähernden Schwerelosigkeit, wenn sonst nur noch ein Leben mit Rollstuhl oder mit bewegungseinschränkenden Lähmungen möglich ist, ist für Menschen mit einer Behinderung ein herausragendes Erlebnis“, weiß der Clubgründer zu berichten. „Abgesehen von allen anderen therapeutischen und sozialen Aspekten, ruft das Tauchen bei den meisten Menschen, nach dem sie zum ersten Mal getaucht sind, starke positive Emotionen und ein gesteigertes Selbstwertgefühl hervor.“ Die Glücksgefühle der Tauchlehrlinge übertragen sich auch auf das Ausbilderteam. So sind die ersten Freiwasser-Tauchgänge der querschnittsgelähmten bzw. blinden Kameraden Gerald und Sebastian für den Clubgründer nach wie vor besondere Momente. „Das gemeinsame Erleben unter Wasser verändert Perspektiven – bei allen Beteiligten. Es gibt hier kein ‚Die‘, sondern nur ein gemeinsames ‚Wir‘.“
Der Kampf um Wasser und Räume
Um dieses Gemeinschaftsgefühl beim Tauchen leben zu können, mussten sich die Inklusionsmacher von Beginn an mit zahlreichen bürokratischen und finanziellen Hürden auseinandersetzen. Wasserflächen zu ergattern war im Gründungsjahr die größte Herausforderung und ist nach wie vor ein harter Kampf. Aktuell stehen dem Verein in zwei Bädern eine Bahn und ein Sprungbecken zur Verfügung – begrenzte Freiheit für Schwimmer und Taucher. Auch die finanzielle Situation ist alles andere als rosig, denn die Mitgliedsbeiträge sind bewusst niedrig gehalten, um sozial Schwächeren den Zugang zum Tauchen zu ermöglichen. „Die finanziellen Mittel reichen kaum für die Wartung der Tauchflaschen und Atemregler, geschweige denn für Mietkosten“, bringt Anhalt das Dilemma auf den Punkt. Deshalb führt der Präsident seinen Verein seit knapp zehn Jahren von zuhause aus. Versammlungen finden in Gaststätten statt, Theorieunterricht und Weiterbildungskurse in einer Fahrschule. Selbst die umfangreiche Tauchausrüstung wird in privaten Kellerräumen aufbewahrt und muss zu jedem Training mitgebracht werden. „Wer in unserem Tauchclub Mitglied wird, dem sagen wir in aller Deutlichkeit, dass er sich auch sozial engagieren muss“, erklärt Anhalt. Viele Interessierte schrecke das ab. Doch die, die bleiben, sind, wie der 78-Jährige sie nennt, „die wahren Alltagshelden“.
Verein mit Vorbildfunktion
Dank fleißiger Netzwerkarbeit und Präsenz bei Stadtfesten samt mobilem Tauchbecken mit Schnuppertauchangeboten ist das besondere Engagement des Tauchclubs mittlerweile in der Tauchszene überregional bekannt und findet auch in Medien und der Öffentlichkeit Anerkennung. 2023 gewannen die Inklusionsmacher den Zukunftspreis des Berliner Sports, den der Landessportbund Berlin jährlich an Projekte vergibt, die innovativ auf besondere Herausforderungen eingehen. Einen Sponsor hat der Tauchclub trotzdem bislang nicht gefunden. „Wir sind meist unter Wasser und können mit Trikot- und Bandenwerbung leider nicht dienen“, erklärt Anlauf halb im Scherz, halb resigniert.
Und so bleibt der 1. Berliner Inklusions-Tauchclub e.V. weiter in Bewegung – an Land und im Wasser – um den inklusiven Sport voranzutreiben und der Gesellschaft zu beweisen: Es gibt keine unüberwindbaren Grenzen – weder unter der Wasseroberfläche noch im Leben.
Weitere Infos zum 1. Berliner Inklusions-Tauchclub e.V. unter https://die-inklusionsmacher.de/