Aktuelles von den Paralympics

Vom Draufgänger zum Überflieger

Ein Sportler, der Perspektiven vermittelt

Vico Merklein auf seinem Handbike

Wenn Vico Merklein die Kurbel seines Handbikes immer und immer wieder dreht, wenn ihm der Fahrtwind ins Gesicht bläst, er die Schaltung sachte betätigt, um den Gang zu wechseln, dann bekommt man den Eindruck, Mensch und Maschine seien untrennbar miteinander verbunden. Kilometer um Kilometer fährt der junge Mann, Stunde um Stunde vergeht, bis auf 45 Stundenkilometer bringt er es aus eigener Kraft in einem Handbike-Rennen, bevor er meist zufrieden über die Ziellinie rollt und die vom hohen Tempo geschundenen Arme mit letzter Kraft hochreißt. Vor Erschöpfung, vor Begeisterung, vor Glück. Dass der 34-Jährige vom GC Nendorf solche Momente erleben, dass er durch seinen Sport um die Welt reisen darf, das hätte er sich vor einigen Jahren noch nicht träumen lassen.

Rückblende: Der Unfall geschieht einen Tag vor seinem 20. Geburtstag. Vico Merklein stürzt mit seinem Rennmotorrad eine Böschung hinunter, bricht sich einen Rückenwirbel und zieht sich eine Prellung des Rückenmarks zu. Was dann kommt, ist für den jungen Mann eine Zeit voller Selbstzweifel. „Mit 20 war ich ein Draufgänger, den so keiner haben wollte. Und plötzlich musste ich mich fragen, ob ich jemals wieder aus dem Bett 'rauskomme“, erinnert sich der mittlerweile 34-Jährige. Doch Vico Merklein wäre heute nicht amtierender Marathon-Weltrekordler im Handbiken, wenn er damals nicht den Ehrgeiz entwickelt hätte, seine Querschnittlähmung nicht einfach so hinzunehmen. „In der Klinik kam plötzlich ein junger Bursche mit dem Rollstuhl auf zwei Rädern 'reingefahren. Da dachte ich mir, wenn ich schon in diesem Stuhl sitzen muss, will ich irgendwann auch mal so cool aussehen“, erinnert er sich heute.

Bis Vico Merklein mit seiner neuen Lebenssituation zurecht kam, vergingen jedoch knapp vier Jahre. „Da kam ich an einen Punkt, an dem es für mich zwei Möglichkeiten gab: Entweder ich springe vom Hochhaus oder ich tue etwas, um voranzukommen.“ Und dann fuhr eines Tages ein Rollstuhlfahrer mit einem so genannten Adaptive-Bike an ihm vorbei – einem Rad, das vorn am Rollstuhl befestigt wird und das man über eine Fahrradkurbel mit den Armen antreibt. „Das habe ich für mich entdeckt, mir eins zugelegt und angefangen zu trainieren.“ Aus fünf Kilometern wurden sechs, dann sieben, bis Vico Merklein es auf 60 Kilometer am Stück brachte. „Allerdings bin ich immer erst umgedreht, wenn ich nicht mehr konnte und dann regelrecht nach Hause gekrabbelt“, sagt er und schüttelt den Kopf über soviel Unvernunft.

Mit System zum Ziel

Inzwischen ist aus dem Draufgänger von damals ein disziplinierter, zielstrebiger und durchtrainierter Athlet geworden. Seit gut vier Jahren betreibt Vico Merklein im Trikot des GC Nendorf (Niedersachsen) und des Team Sopur das Handbiken als Leistungssport, unterstützt durch einen Trainer, der ihm individuelle Trainingspläne schreibt. 30 bis 35 Stunden Fahrtraining pro Woche, dreiwöchige Trainingslager auf Lanzarote, Rennen in ganz Deutschland, der Schweiz aber auch in Dubai oder den USA – das Leben von Vico Merklein ist aufregend geworden. Das Image des frustrierten Rollstuhlfahrers hat er längst abgelegt und ist nicht nur mit dem „Race Across Amerika“ im Jahr 2009 ein gutes Stück vorangekommen, wenn es darum geht, mit seinem Körper „ins Reine zu kommen“. Handbiken ist für den humorvollen Sportler eine Art Lebensphilosophie. Dennoch: 5.000 Kilometer, 30.000 Höhenmeter in neun Tagen, einmal quer durch die USA – „das war schlimmer als alles, was man sich vorstellen kann und das Härteste, was mein Körper bisher geleistet hat“, erinnert sich der Handbiker. Ob er es wiederholen würde? „Nicht dasselbe“, antwortet er, ohne eine Sekunde zu überlegen. „Nochmal so wenig Schlaf, nochmal so viel essen, dass man davon Muskelkater bekommt...? Ich kann bestimmt etwas, was noch anstrengender ist, aber das muss etwas anderes Verrücktes sein“, verrät Vico Merklein.

„Ich fahre nicht nach London, um Zweiter zu werden“

Gedanken über das „Verrückte“ macht er sich frühestens Ende des Jahres. Denn bis dahin steht für den Handbike-Profi die Nominierung für die Paralympischen Spiele  in London 2012 ganz oben auf der Agenda. Mit Hilfe des starken Rückhalts durch Familie und Freunde, durch ein intensives Training und „die gewisse Konzentration, die man braucht, um solch ein großes Event mental zu verarbeiten“, will Vico Merklein dort das Beste aus sich herausholen. „Ich fahre nicht hin, um Zweiter zu werden.“ Und wenn Vico Merklein das sagt, dann meint er es auch so. Schließlich ist seine professionelle Einstellung zum Sport ausschlaggebend für seine bisherigen Erfolge, zu denen er aus dem Jahr 2011 einen Landesmeistertitel im Halbmarathon, einen vierten Platz im Straßenrennen bei den Weltmeisterschaften und den Vize-Weltmeistertitel im Zeitfahren hinzufügen kann. Doch auch zahlreiche Weltcup-Podestplätze sowie der Sieg beim Berlin-Marathon unterstreichen das hohe sportliche und extrem erfolgreiche Niveau des Handbikers.

Anderen Menschen Perspektiven vermitteln

Nicht zuletzt wegen dieser großartigen Leistungen wurde Vico Merklein bereits zweimal für die Wahl „Behindertensportler des Jahres“ in Niedersachsen nominiert. Siegreich war er dabei zwar nicht, doch Grund zu Traurigkeit ist ihm dies keinesfalls. Stattdessen macht er auch aus dieser Tatsache das Beste. „Es ist für mich eine Ehre, nominiert worden zu sein und so Anerkennung für meine Leistung zu bekommen. Es gibt mir Hoffnung und Zuversicht, dass man durch solche Events anderen Menschen in einer ähnlichen Situation Inspiration und Perspektiven vermitteln kann.“ Und auch das hilft dem 34-Jährigen dabei, irgendwann vollends mit seinem Körper ins Reine zu kommen.

Text: Heike Werner