Aktuelles von den Paralympics

Der Lauf in ein neues Sportler-Leben

Quelle: Sepp-Herberger-Stiftung/Carsten Kobow

Die 100 Meter zwischen Startblock und Ziellinie legt er schneller zurück als 95 Prozent der Menschheit. Und zwar auf einem Bein. Wojtek Czyz, deutscher Leichtathlet polnischer Herkunft, 31 Jahre alt, Student der Sporthochschule Köln und Angestellter von Toto-Lotto Rheinland-Pfalz, Vereinsmitglied des 1. FC Kaiserslautern und guter Freund von Miroslav Klose, ist ein erfolgreicher Behindertensportler. Viermal Gold bei den Paralympics hat er zwischen 2004 und heute gewonnen. Nun hat Czyz ein neues Ziel. Er und die DFB-Stiftung Sepp Herberger wollen dem 15-jährigen Leon Schäfer bei dessen ersten Schritten ins neue Sportlerleben helfen. 

Wie eine Kralle schaut die Prothese aus, die sich Leon Schäfer anschnallt, um mit seinem Vorbild zu trainieren. Es ist ein Samstagmorgen im Februar. Zwei Juniorinnen absolvieren Intervallsprints auf der Hallenbahn. Ansonsten gehört die weiträumige Leichtathletikhalle von Bayer 04 Leverkusen den beiden behinderten Leistungssportlern. Der eine – ein Weltklasseathlet, zigfacher Weltmeister und vierfacher Paralympics-Sieger. Der andere steht ganz am Anfang.

„Vor vier Monaten habe ich die Prothese bekommen. Ich bin jetzt Leichtathlet und will auch dabei bleiben“, sagt Leon Schäfer. Früher hat er Fußball gespielt, so gut, dass er vom DFB-Stützpunkt in Bremen gefördert wurde. Ein vermeintlicher Bluterguss unterhalb des Knies stellte sich als Knochenkrebs heraus, der Unterschenkel des linken Beins musste amputiert werden. „Damals dachte ich schon: ‚Alles Scheiße’“, sagt Leon. Doch die dunkle Zeit liegt hinter ihm. Heute will der großgewachsene Junge ein Spitzen-Leichtathlet werden. Deshalb kommt er von Bremen an den Stützpunkt nach Leverkusen. Deshalb legt er seine Alltagsprothese ab und schnallt sich die Kralle an.

Spartanisch schaut das Ding aus, wie ein Teil vom Terminator. Anders als bei der Prothese fürs normale Leben geht es nicht um Kosmetik und Komfort. Effizient, ohne Unversehrtheit vorzugaukeln - die Sportprothese dient nur einem Zweck: Schnelligkeit. Für Wojtek Czyz ist das völlig okay: „Geht ja auch keiner mit Spikes spazieren.“ Trotz des spartanischen Eindrucks steckt hinter der Prothese eines Spitzenathleten aber eine Menge Technik, Biomechanik und individuelle Anpassung. Das hat seinen Preis, einen guten Kleinwagen könnte man sich für das nötige Geld einer Sportprothese leisten. Und die Krankenkasse zahlt keinen Cent.

Weil beide, Wojtek Czyz und Leon Schäfer, vor ihren Amputationen erfolgreiche Fußballer waren, übernahm der Fußball einen Teil der Kosten für die Anschaffung der ersten Sportprothese. Die 1977 gegründete DFB-Stiftung Sepp Herberger, die ihr soziales Wirken aus dem Privatvermögen Herbergers sowie DFB-Zuwendungen finanziert, beteiligte sich 2010 am Kauf von Leons erster Sportprothese. „Es ist schön, dass der Sport auch künftig ein wichtiger Bestandteil Deines Lebens sein soll“, schrieb Dr. Theo Zwanziger, damals Vorsitzender des Stiftungskuratoriums, Leon in einem persönlichen Brief.

Auch vor mehr als zehn Jahren half die Herberger-Stiftung. Wojtek Czyz, damals 19 Jahre jung, war Fortuna Köln aufgefallen, man lud ihn zum Probetraining ein. Am 11. September 2001, als in New York zwei Passagiermaschinen in die Twin Towers donnerten, stand sein Wechsel in die Regionalliga fest. Am 15. September erlebte Czyz seine persönliche Katastrophe. So beschreibt er die Vorfälle selbst: „Es ist mein letztes Spiel für meinen bisherigen Verein, den VfR Grünstadt. Wir spielten gegen Niederauerbach. Es passierte kurz nach der Pause. Ich bekomme einen langen Ball gespielt, renne hinterher in den Strafraum. Als ich merke, dass der Torwart schneller ist, versuche ich über ihn zu springen – aber er lässt mich nicht. Er trifft mich mit seinem gestreckten Bein direkt und mit voller Wucht am Knie.“

 

Es ist 15.45 Uhr. Czyz hat keinen Fußpuls mehr, doch erst im Grünstadter Krankenhaus wird ein Kompartmentsyndrom diagnostiziert, was bedeutet, dass das Bein unterhalb des Knies nicht mehr mit Blut versorgt wird. Innerhalb von sechs Stunden muss operiert werden, doch nach einer Irrfahrt von Grünstadt nach Kaiserslautern nach Homburg ist es 1 Uhr nachts, bis Wojtek Czyz auf dem OP-Tisch liegt. Er verliert sein linkes Bein.

Das grob unsportliche Verhalten des Gegners, die vermeidbare Amputation – alles abgehakt. „Ich schaue nach vorne. Bei mir wurden Fehler gemacht, diese Fehler wurden auch anerkannt“, sagt er heute. Und mit Blick auf seine einzigartige Laufbahn bilanziert er: „Für mich ist es toll gelaufen“. Nach einem schweren Anfang, wie er sich erinnert. „Man liegt da im Bett, malt sich Ziele aus, die aber gar nicht finanzierbar sind, weil die Krankenkassen eben keine Sportprothesen finanzieren. Doch die Herberger-Stiftung hat sehr schnell und umkompliziert reagiert und mich unterstützt. Meinen festen Willen, der Stiftung für ihre Hilfe etwas zurückzuzahlen, habe ich dann in den täglichen Trainingseifer kanalisiert.“

Mit großem Erfolg. Keine drei Jahre nach Grünstadt holte Czyz in Athen dreimal Gold für Deutschland. Im Fußball früher stand er kurz vor der Regionalliga. Als beinamputierter Leichtathlet gehörte er ab 2004 zur Weltklasse. Seine Bestwerte sind Fabelmarken: Er läuft die 100 Meter in 12,26 Sekunden, die 200 Meter in 25,75 Sekunden und beim Weitsprung katapultiert er sich 6,50 Meter durch die Luft.

Sein Trainingseifer ist legendär, „ich gebe immer Vollgas“, sagt er. Er ist ein Besessener, ihn treibt die eigene Bewegungsfähigkeit zu Höchstleistungen. Nach der Amputation, erinnert er sich, „habe ich ein halbes Jahr nur rumgesessen, bin immer wieder nur den Gang hoch und runtergehumpelt. Als ich endlich wieder auf einem Sportplatz rennen konnte, war das wie eine Befreiung.“ Das motiviert ihn bis heute. Dabei nimmt er wenig Rücksicht auf sich und die Prothese. „Verschleiß?“, antwortet er, „na klar. Es gibt diejenigen, die pfleglich mit dem Zeug umgehen, und es gibt andere. Ich habe eher eine materialfeindliche Einstellung“. Drei Prothesen im Schnitt pro Jahr braucht er schon.

 

Ab und zu erreicht Wojtek Czyz über die Homepage dann die Mail eines Jungen. „Dann gehe ich ins Krankenhaus und dann liegt der Kleine da, das Bein wurde gerade amputiert, wegen eines Unfalls oder aus einem anderen Grund, und dann muss ich gar nicht viel sagen. Für den Kleinen bin ich ein Vorbild, ich bin der Beweis, dass er trotzdem erfolgreich sein, im Mittelpunkt stehen, ein bisschen ein Held sein kann. Und plötzlich strahlt der Junge.“

Im September bei den Paralympics von London will Wojtek Czyz seinen letzten großen Lauf machen. „Ich fahre nach London“, sagt er immer noch ehrgeizig, „um Bestleistungen zu erzielen.“ Leon Schäfer wird Wojtek Czyz begleiten, der junge Leichtathlet wurde vom Deutschen Behindertensportverband gemeinsam mit 31 anderen behinderten Sportlern zu einem Jugendcamp eingeladen. Für Wojtek Czyz wird es der letzte große Wettkampf seiner einzigartigen Karriere sein, für Leon Schäfer – auch wenn er noch nicht selbst an den Start geht – der erste. Als Wegbereiter an ihrer Seite stand und steht die Sepp-Herberger-Stiftung.

Quelle:  Thomas Hackbarth, DFB-Stiftung Sepp Herberger