Aktuelles aus dem Behindertensport

„Jeder Jugendliche braucht ein Idol“

Ein Doppelinterview mit Denise Schindler und Lars Pickardt

Portraitbild von Denise Schindler und Lars Pickardt
Denise Schindler und Lars Pickardt

Wenn sie sich über die Themen Nachwuchs und Talentförderung unterhalten, sollte jeder zuhören. Denise Schindler und Lars Pickardt sind ohne Zweifel vom Fach. Die 30 Jahre alte Schindler wurde im vergangenen Jahr Bahnrad-Weltmeisterin in Apeldoorn; 2012 brachte sie die Silbermedaille aus London mit, damals auf der Straße. Schindler ist eine große Medaillenhoffnung für die Paralympischen Spiele in Rio im Sommer. Als früh Unterschenkelamputierte erlebte sie den ganzen Stress, den Sportunterricht an deutschen Schulen ausmachen kann. Der 44 Jahre alte Lars Pickardt aus Solingen ist als Vorsitzender der Deutschen Behindertensportjugend (DBSJ) quasi von Amts wegen mit dem Thema Nachwuchsförderung befasst.

In einem moderierten Gespräch sprechen die beiden über staunende Jugendliche, ratlose Lehrer, große Entbehrungen, Helikopter-Eltern, den Wert von „Jugend trainiert für Paralympics“ und den Traum von Rio.

Wie zielgerichtet ist Nachwuchsförderung im Behindertensport inzwischen eigentlich?

Lars Pickardt: Es gibt eine grundsätzliche Schwierigkeit, dass viele Eltern denken, wir wollten ihre Kinder aus dem „normalen“ Verein herausreißen. Das wollen wir nicht. Wenn ein Talent dort gut gefördert wird, kann es dort bleiben – sollte aber an Sichtungslehrgängen im Behindertensport teilnehmen und auch an unseren Wettkämpfen. Ich kenne das aus meiner Arbeit als Präsident und Trainer im Kölner Fechtklub: Da sind die Rollstuhlfahrer im normalen Training dabei. Meine fünf Rolli-Fahrer sind dann eben im DBS, die anderen 115 im Fechtverband gelistet.

Ist es für die Eltern nicht ein Erfolg, wenn ihr behindertes Kind bei den „Normalen“ mitmacht?

Pickardt: Die Eltern sind oft stolz und froh, dass ihr Kind im „normalen“ Sportverein ist und sagen: Mein Kind macht richtig Sport! Viele Kinder und Jugendliche mit überschaubaren Amputationen sind im Schwimmen oder in der Leichtathletik im normalen Verein auch gut aufgehoben. Sie nehmen sogar an Kreismeisterschaften teil. Aber: Das sind genau die Talente, die wir brauchen! Diese wären in unseren Strukturen ganz weit vorn.

Können Lehrer und Trainer mit behinderten Sportlern umgehen?

Pickardt: Ich höre immer wieder, dass behinderte Schüler im Schulsport auf der Bank sitzen, weil die Lehrer nicht mit ihrer Situation umgehen können. Für Trainer gilt das weniger. Wir müssen die Trainer und Lehrer an der Basis sensibilisieren und dann auch fortbilden. Es gibt einige Ideen und Projekte gerade vor Ort, aber den generellen Masterplan haben wir nicht. Aber es gibt auch immer mehr Schüler, die den Lehrern die Angst nehmen und sagen: Lass mich einfach mitmachen, ich kann das. Die Lehrer oder Übungsleiter müssen ja auch keine absoluten Spezialisten werden. Sie sollten aber wissen, dass es den organisierten Behindertensport gibt, sie uns fragen können, oder auf uns verweisen.

Denise, was war Ihre schmerzlichste Erfahrung als Jugendliche?

Denise Schindler: Da muss ich mit meiner Vorgeschichte beginnen. Ich habe bei einem Unfall den rechten Unterschenkel verloren, als ich mit zwei Jahren unter eine Straßenbahn geriet. Das Sprunggelenk meines rechten Fußes ist seitdem versteift. Nach dem Unfall war ich ein Jahr im Krankenhaus. Bis ich zwölf, 13 Jahre alt war, musste ich ein Mal pro Jahr operiert werden. Wir sind im Mai 1989 kurz vor der Wende aus Karl-Marx-Stadt extra in den Westen gezogen. Wegen der besseren Krankenhäuser. Das war alles nicht so einfach.

Teilen Sie Lars Pickardts Ansichten zum Schulsport?

Denise Schindler: Ja, auf jeden Fall. Laufen, Rennen, Ballsportarten, das war für mich natürlich gar nicht geeignet. Da konnte ich überhaupt kein Selbstvertrauen schöpfen. Ich bin erst mit 18 dahin gekommen, dass Sport Erfüllung ist. Ich habe vorher viele Hänseleien erlebt. Kinder sind brutal. Als behindertes Kind oder Jugendliche brauchst du Idole, um dich zu trauen. Oder einen gut ausgebildeten Lehrer. Den hatte ich nicht. Das kann man aber auch nicht erwarten. Die Lehrer lernen viele Stoffe in ihren Fächern, aber wenig Pädagogik. Auch deshalb sind Förderschulen so wichtig und der Wettbewerb „Jugend trainiert für Paralympics“. So etwas hätte ich mir für mich auch gewünscht.

Können Sie aus dieser schweren Zeit etwas Positives mitnehmen?

Schindler: Dein Umfeld sagt dir, du bist behindert, also: „Sei froh, dass du laufen kannst.“ So geht bis heute ein Haufen Talent für den Behindertensport verloren. Ich bin ja komplett zufällig in den Bereich Paracycling eingestiegen, erst mit 18 Jahren. Ich wurde dazu überredet. Eine Freundin von mir wollte abnehmen und hat mich gefragt, ob ich mitmachen will. So habe ich das Spinningrad im Fitnessstudio entdeckt. Es hat mir sofort Freude gemacht, mich eine Stunde auszupowern. Meine Eltern haben dann lange gehofft, der Hochleistungssport sei eine Phase, die vorübergeht. Sie haben sich gesorgt. Jetzt bin ich glücklich, diesen Sport zu haben. Man muss sehr ehrgeizig sein und Disziplin haben. Aber es gibt viele Belohnungen – ich wollte heute drei Stunden Mountainbike in den Bergen fahren. Es sind aber fast vier geworden, weil es einfach toll lief. Radsport ist gelenkschonend, man sieht viel und reift als Mensch.

Herr Pickardt, wenn Denise Schindler erzählt, sie sei erst mit 18 Jahren zum Sport gekommen, was denken Sie da?

Pickardt: So etwas gibt es. Wir hoffen, dass uns keine Talente durch die Lappen gehen, weil der Spaß am Sport in der Schule verloren geht. Durch das System, dass die Landessieger bei „Jugend trainiert für Paralympics“ teilnehmen, wird ja in den Ländern nach Talenten aus den Schulen geschaut. Wir hätten etwas falsch gemacht, wenn uns erst beim Bundesfinale in Berlin oder Schonach ein überragender Athlet auffiele. Die Landessieger kennen wir schon vorher. Dafür ist das Bundesfinale „Jugend trainiert für Paralympics“ als Leuchtturm besonders wichtig.

Denise, Sie sind Vorzeigeathletin des DBS geworden. Müssen Sie sich manchmal kneifen, um das zu glauben?

Schindler: Das geschieht ja nicht sofort. Das war eine Entwicklung. Ich mache das gern. Ich kann Wissen weitergeben und Tipps geben. Ich weiß, dass man mit einer Behinderung ganz andere Bedürfnisse hat. Ich möchte den Kindern den Einstieg erleichtern. Mein Anliegen ist, dass die Kids den Zugang zum Sport finden. Wenn mir früher jemand gesagt hätte, was aus mir wird, hätte ich den Kopf geschüttelt. Es dürfen dem deutschen Behindertensport einfach nicht viele Talente durch die Lappen gehen.

Sie sind sehr aktiv, leiten Aktionen zur Nachwuchsförderung an. Worum ging es bei „Hier trainiere ich“?

Schindler: Das ist ursprünglich eine Idee der Deutschen Bahn. Die DB ist größter Förderer von „Jugend trainiert für Paralympics“. Es gab ein Training, das die Schüler mit mir gewinnen konnten. Dafür mussten sie sich bewerben. Es waren 16, 17-jährige Schüler vom Gymnasium Ansbach. Wir sind Ende Oktober alle zusammen drinnen auf Spinningrädern gefahren. Da haben sie gemerkt, wie anstrengend das ist. Wichtiger noch waren die Gespräche hinterher.

Worum ging es da?

Schindler: Es hat sie total interessiert, wie und warum ich ins Radfahren eingestiegen bin, weil ich ja damals in ihrem heutigen Alter war. Es ist nie zu spät für den Leistungssport, das ist meine Botschaft. Sie haben ganz normale Fragen aus dem Leben gefragt, ob ich am Wochenende ausgehen könne, wie zeitaufwendig mein Sport ist. Und, ob ich auch mal Alkohol trinke.

Und?

Schindler: Ich habe gesagt, nein, aber Maracujasaftschorle.

Haben sie sich für ihre Prothese interessiert?

Schindler: Ja. Damit gehe ich ganz natürlich um. Ich habe ihnen gesagt, es ist einfach ein Schuh, den ich anziehe.

Herr Pickardt, woran fehlt es noch bei der Nachwuchsförderung im Behindertensport?

Pickardt: Da gibt es viele Ansätze. Der Begriff der Helikoptereltern ist ja bekannt. Sie spielen auch im Behindertensport eine besondere Rolle. Hinzu kommt, dass viele Kinder bis nachmittags in der Schule sind, sie haben dann noch ein- bis zweimal die Woche Reha und vielleicht noch einen Arztbesuch. Da sagen viele Eltern, die permanent als Fahrdienst unterwegs sind: Heute bleiben wir mal zuhause. Meiner Meinung nach neigen viele Eltern dazu, ihr behindertes Kind überzubehüten, ihm ganz wenig zuzumuten, aber eben auch wenig zuzutrauen. Wir müssen den Eltern klarmachen: Lasst euer Kind mal laufen! Es trägt zur Selbstständigkeit und Persönlichkeitsentwicklung bei!

Wie kann der Nachwuchs denn noch besser gefördert werden?

Pickardt: Das sind Kleinigkeiten, die aber alle Geld kosten. Dass wir Nachwuchsathleten zu Lehrgängen mitnehmen, zu Trainingslagern und großen Wettkämpfen bei den Erwachsenen. Da können sie erste Erfahrungen sammeln. Das Bundesfinale in Berlin im Schwimmen ist auch deswegen so professionell aufgezogen mit großer Halle und Hallensprecher, damit die Sportler mal sehen, wie ein Wettkampf dieser Größe funktioniert.

Ganz wichtig ist aber auch das Arbeiten mit Paten und Vorbildern. Ich kann mich als Vorsitzender stundenlang hinstellen und vor Lehrern und Schülern erzählen, wie man es machen sollte. Wenn da Vorbilder stehen, hat das eine ganz andere Wirkung. Ich weiß, wie überzeugend und von Herzen Denise so etwas macht. Wir brauchen unsere namhaften Athleten wie Anna Schaffelhuber, Markus Rehm, Heinrich Popow, Verena Bentele oder Anna-Lena Forster als Paten und Vorbilder für die Jugend. Sie können den Nachwuchs erreichen und mitnehmen. Und machen dies auch gerne.

Kann eine Aktion wie „Hier trainiere ich“ dabei helfen?

Pickardt: Auf jeden Fall. Im Rahmen des Hauptsponsorings des Schulwettbewerbs „Jugend trainiert für Paralympics“ hat die Deutsche Bahn diese Aktion ins Leben gerufen. Die coolen Jungs, die Denise sahen und dachten: „Der fahre ich mal eben weg auf dem Rad, der fehlt ja ein Unterschenkel“, haben ganz schön gestaunt, als Denise sie beim Spinning in Grund und Boden gefahren hat. Es geht eben auch um solche Erfahrungen – dass ein Nichtbehinderter sieht, zu welchen Leistungen ein Behinderter imstande ist. Wenn es gleiche Bedingungen gibt.

Das Gespräch führte Frank Heike