Aktuelles vom Deutschen Behindertensportverband
Die schwierige Suche nach Heuhaufen, Nadeln und Diamanten
Der erste Nachwuchskongress des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) war mit zahlreichen Teilnehmer*innen, einem konstruktiven Austausch und vielen Ideen ein voller Erfolg. Doch die eigentliche Arbeit beginne erst jetzt – darin sind sich Lukas Niedenzu, Abteilungsleiter Leistungssportentwicklung, und Lina Neumair, Referentin Nachwuchsleistungssport, einig. Im Interview sprechen die beiden über Hürden und Lösungen bei der Nachwuchsgewinnung, über notwendige Maßnahmen und gute Beispiele – und über Heuhaufen, Nadeln und Diamanten.
Der Deutsche Behindertensportverband hat erstmals einen Nachwuchskongress ausgerichtet. Wie kam es zu dieser Initiative?
Lina Neumair: Die Idee war schon länger in unseren Köpfen, wir haben den Termin lange geplant und endlich umgesetzt. In unseren Landesverbänden gibt es inzwischen erfreulicherweise rund zehn Talentscouts, hinzu kommen Nachwuchsbundestrainer, Projektkoordinatoren im Schnee- und Sehbehindertensport sowie Leistungssportkoordinatoren, die sich auch um die Nachwuchsgewinnung kümmern. Wichtig war uns, dass wir alle an einen Tisch bringen und künftig möglichst eine einheitliche Handschrift entwickeln. Wir haben besprochen, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen – und stehen jetzt vor einem Berg voller Ideen und Aufgaben.
Mit über 70 Teilnehmer*innen war die Resonanz erfreulich groß. Wie fällt das Fazit aus?
Lukas Niedenzu: Wir sind sehr zufrieden, der Austausch war hervorragend und sehr konstruktiv. Doch der Erfolg der Veranstaltung muss sich daran messen lassen, was künftig umgesetzt wird. Entscheidend ist aber, welche der vielen guten Ansätze in der Praxis realisiert werden können. Wir suchen nach der Nadel im Heuhaufen. Doch leider kennen wir noch nicht einmal alle Heuhaufen, um systematisch nach den Nadeln zu suchen. Daher ist es umso wichtiger, dass wir gemeinsam denken und handeln.
Wie geht es jetzt weiter? Welche Maßnahmen sind wichtig?
Lina Neumair: Wir werden die Vielzahl an Ideen auswerten und versuchen, Handlungsleitfäden, Checklisten und Maßnahmen auszuarbeiten. Es geht vor allem darum, einerseits mehr Menschen mit Behinderung oder deren Multiplikatoren im Umfeld zu erreichen bzw. anzusprechen und im zweiten Schritt die Zugangswege in den Sport zu verbessern.
Lukas Niedenzu: Dafür brauchen wir noch viel mehr Einstiegsangebote für Kinder und Jugendliche mit Behinderung wie Turnen, Schwimmen oder einfach die Vermittlung von Spaß an der Bewegung. Der Behindertensport muss zudem verstärkt in die Aus- und Fortbildung von Trainer*innen einfließen und noch sichtbarer werden. Wir suchen im ersten Schritt nicht die Paralympics-Sieger von morgen, sondern es geht darum, Menschen mit Behinderung in der Breite für den Sport zu begeistern und die Anzahl insgesamt zu vergrößern. Wenn sich darunter dann ein kommender Markus Rehm (mehrfacher Paralympics-Sieger Para Leichtathletik) oder eine Anna-Lena Forster (mehrfache Paralympics-Siegerin Para Ski alpin) befindet – umso besser.
Warum spielt die Nachwuchsgewinnung im Sport von Menschen mit Behinderung eine besonders große Rolle?
Lukas Niedenzu: In Deutschland gelten knapp zehn Prozent der Bevölkerung als schwerbehindert, das ist einerseits viel, doch andererseits ist die Zielgruppe mit Blick auf den paralympischen Sport sehr klein, wenn man sich auch die Altersstruktur anschaut. Allein das zeigt schon, dass die Suche deutlich aufwendiger ist als im olympischen Sport. Hinzu kommt, dass das Streben nach Inklusion auch dazu führt, dass unsere Zielgruppe ein Stück weit in den Schulen und Vereinen untertaucht. Doch wir brauchen die Inklusion und die Vereine bzw. Struktur im Deutschen Olympischen Sportbund unbedingt, um Menschen mit Behinderung den Weg in den Sport zu ebnen. Das sorgt nicht nur für die notwendigen Angebote in der Fläche, sondern auch für gelebte Teilhabe und Vielfalt.
„Wir wollen nicht nur die Probleme benennen, sondern viel lieber Lösungen aufzeigen“
Was sind die Hürden in der Praxis?
Lina Neumair: Der Datenschutz an Schulen ist bspw. eine große Hürde. Zudem erleben wir immer wieder, dass viele Menschen noch Hemmungen haben, Menschen mit Behinderung im Sportgeschehen zu integrieren. Dabei muss doch gar nicht alles wie im Lehrbuch sein. Wichtig ist, dass man miteinander ins Gespräch kommt und Möglichkeiten findet, wie Menschen mit Behinderung mitmachen können. Zur komplizierten Suche kommt also noch hinzu, dass es auch bei der Unterbringung in die Vereine hakt. Besonders nah gehen einem die Situationen, wenn Menschen gerne Sport treiben wollen, es aber nicht können, weil die Voraussetzungen nicht gegeben sind.
Lukas Niedenzu: Dabei scheitert es, so haben zumindest Umfragen bei unseren Kader-Athlet*innen gezeigt, selten an der fehlenden Barrierefreiheit. Schwierig ist der Transfer in die Sportstrukturen. Vor allem mangelt es an Angeboten oder an Übungsleiter*innen, die sich das zutrauen. Doch wir wollen nicht immer nur die Probleme benennen, sondern viel lieber Lösungen aufzeigen, wie es doch klappen kann.
Es gibt TalentTage, Aktions- und Schnuppertage, das Handbuch Behindertensport, die Plattform parasport.de mit Sportarten- und Vereins-Finder, das Projekt Teilhabe VEREINfacht oder inzwischen auch die SportWoche für Alle – reichen diese Initiativen des DBS und seiner Landes- und Fachverbände noch nicht aus?
Lukas Niedenzu: Vor fünf Jahren hätte ich mir nicht ausgemalt, dass wir heute so einen guten Status quo haben. Bspw. haben wir mit der Webseite parasport.de ein Premium-Produkt geschaffen mit so vielen Informationen und Angeboten, die aufklären, sensibilisieren und den Weg in den Sport erleichtern. Das müssen wir noch viel mehr aufs Schild heben, darauf können wir sehr stolz sein. Mit diesen Instrumenten, die wir geschaffen haben, wollen wir unsere Ziele hartnäckig vorantreiben und noch besser werden. Erfreulich ist, dass es auch in unseren Landes- und Fachverbänden stetig weiter vorangeht. So gilt es, die erfolgreichen Maßnahmen und Projekte in ganz Deutschland durchzuführen.
Lina Neumair: Dabei kommt es auch darauf an, dass wir voneinander lernen, uns noch mehr verknüpfen und gemeinsam an einem Strang ziehen. Und dass wir auch mal über die Grenzen des jeweiligen Bundeslandes hinausdenken. Ein großer Schnuppertag im Norden von Hessen ist bestimmt auch für Menschen mit Behinderung in Thüringen interessant und umgekehrt. Eine Idee wie die tolle Initiative „ParaMove“ in Brandenburg funktioniert bestimmt auch in Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen.
Lukas Niedenzu: Bei „ParaMove“ sind inzwischen über 30 Kinder mit Behinderung angemeldet, die einmal in der Woche in Cottbus gemeinsam Sport treiben. Wenn das in einer Stadt mit 100.000 Einwohnern so gut funktioniert und angenommen wird, wie viele Kinder wären es dann in Berlin, Hamburg, München oder Köln?
Beim DBS-Nachwuchskongress waren auch Vertreter*innen aus Italien, Österreich, Niederlande und Polen anwesend. Was kann Deutschland von den anderen Nationen lernen?
Lukas Niedenzu: Sicherlich von allen etwas. Eine wichtige Erkenntnis ist jedoch auch, dass eigentlich alle Länder vor ähnlichen Herausforderungen stehen, zum Teil aber bereits umfangreichere Lösungen gefunden haben. Dabei ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass der Sport in vielen Nationen ganz anders strukturiert ist und auch einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft genießt. Die paralympischen Sportarten in Italien sind nahezu vollständig in die olympischen Verbände übergegangen. Das ermöglicht eine enge Zusammenarbeit in der Sichtung, der Trainerausbildung oder auch im Wettkampfsystem. Die Niederländer pflegen eine enge Kooperation mit Rehabilitationseinrichtungen und können auf ein gut strukturiertes System in einem kleinen Land zurückgreifen. Aus Österreich hat uns beeindruckt, wie großflächig Veranstaltungen wie Schnuppertage im Radio und im Fernsehen beworben werden. In Deutschland stellt uns der Föderalismus vor verschiedene Herausforderungen. Einig waren sich aber alle: Mails schreiben ist nicht ausreichend, es braucht viel mehr Engagement, um Menschen mit Behinderung für den Sport zu begeistern und sie in den Vereinen unterzubringen.
Lina, Du warst 2019 die erste Talentscoutin in Deutschland beim Behinderten- und Rehabilitationssportverband in Nordrhein-Westfalen, inzwischen gibt es rund zehn Talentscouts. Was sind die Aufgaben und warum ist diese Position wichtig?
Lina Neumair: Es geht darum, Aktionen anzubieten, die Maßnahmen zu bewerben, Vereine zu gewinnen, Kinder und Jugendliche zu begeistern und ein Netzwerk aufzubauen – das können sowohl Bildungseinrichtungen sein als auch Unfallkliniken, Sanitätshäuser, Arztpraxen, Physiotherapeuten, Selbsthilfegruppen, Interessensgemeinschaften oder andere Verbände. Das ist dann klassisches Türklinkenputzen, da muss man auch mal über den Tellerrand hinausschauen und kreativ sein. Die aufwendigste Arbeit ist dann die Pflege dieses Netzwerkes. Doch wenn alle ihr Netzwerk einbringen und wir Verknüpfungen herstellen, dann haben wir eine hervorragende Basis, um auf unsere vielfältigen Aktionen und Maßnahmen aufmerksam zu machen. Es muss uns gelingen, dass die vielen Zahnräder noch besser ineinandergreifen.
„Die Hemmungen, dass man etwas falsch machen könnte, müssen abgelegt werden“
Was braucht es neben den Initiativen der Behindertensportverbände, damit künftig noch mehr Menschen mit Behinderung Sport treiben?
Lukas Niedenzu: Vor allem ganz viel Offenheit, Aktionismus und Engagement!
Lina Neumair: Und unbedingt die Hemmungen ablegen, dass man etwas falsch machen könnte. Man braucht eine Portion Einfühlungsvermögen und muss auch mal bereit für kreative Lösungen sein – von den Eltern erntet man dann vor allen Dingen große Dankbarkeit, dass man den Kindern das Sporttreiben ermöglicht.
Lukas Niedenzu: Und wir brauchen noch mehr Talentscouts, noch mehr Angebote, noch mehr ausgebildete Übungsleiter*innen und noch mehr Vereine, die sich öffnen. Ebenso wichtig sind die Multiplikator*innen und die Aufmerksamkeit. Viele Menschen kennen uns noch gar nicht und wissen nicht um die Möglichkeiten, die es im Sport für Menschen mit Behinderung gibt. Wir wollen die Situationen reduzieren, dass Menschen durch puren Zufall den Weg in den Sport finden. Dazu trägt auch die Strahlkraft der Paralympics bei und unsere Athlet*innen, die mit ihren Erfolgen, aber auch mit ihren beeindruckenden Geschichte die besten Botschafter*innen für den Para Sport sind.
Wie kann der paralympische Leistungssport von diesen Bestrebungen profitieren?
Lukas Niedenzu: Wenn es uns gemeinsam gelingt, dass viel mehr Menschen mit Behinderung Spaß an Sport und Bewegung haben, dann haben wir schon sehr viel geschafft. Davon profitiert schließlich nicht nur der DBS, sondern in erster Linie die Menschen selbst und letztlich die gesamte Gesellschaft. Und dann gilt: Je mehr Masse, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass wir darunter den ein oder anderen Diamanten finden.
Die Kunst ist es also, in schwer zugänglichen Heuhaufen Nadeln zu finden und diese zu Diamanten zu schleifen?
Lukas Niedenzu: Wahrlich keine leichte Aufgabe, aber wir haben inzwischen sehr gute Grundlagen entwickelt. Die größten Stellschrauben sind in meinen Augen die Vereine und die Familien. Jetzt geht es um die Umsetzung und darum, die bestehenden Puzzlestücke noch besser zusammenzufügen. Dazu müssen wir alle Kräfte mobilisieren und brauchen unsere Landes- und Fachverbände, unsere Athlet*innen und die Netzwerke.
Lina Neumair: Wir werden den Nachwuchskongress jetzt intensiv aufarbeiten und die Maßnahmen priorisieren. Und dann packen wir es an!