Plötzlich Weltranglisten-Dritter: Der ungewöhnliche Weg von Andreas Walser
WM-Debüt mit 27 Jahren: Der Augsburger Andreas Walser hat bislang schon eine verrückte Saison hinter sich. Erst im vergangenen Jahr fing der ehemalige American-Football-Spieler mit der Para Leichtathletik an, bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften in Singen flog er jüngst zu einer Bestweite, die ihn auf Platz drei der Weltrangliste in der Klasse T12 der sehbehinderten Weitspringer hievte. Große Erwartungen hat der Newcomer dennoch keine – vielmehr will er seine Premiere bei der Para Leichtathletik-WM in Paris (8. bis 17. Juli) genießen.
„Die Vorfreude wächst und ich kann es kaum erwarten“, sagt Andreas Walser wenige Tage vor seiner ersten Weltmeisterschaft in Paris, die am 8. Juli eröffnet wird: „Das Training läuft, generell kann es echt nicht besser laufen, es ist alles top.“ Hinter dem 1,97 Meter großen Sportler und seinem Trainer Stefan Wastian liegen verrückte Monate. Noch beim letzten internationalen Großereignis, den Paralympics in Tokio vor zwei Jahren, wusste er nur wenig über die Para Leichtathletik. Doch mit der Fernsehübertragung aus Japan – genauer die des olympischen Zehnkampfs – fing alles an.
2020 während Corona machte Walser das Sportabzeichen, weil Mannschaftssport noch verboten war. Erstmals seit seiner Schulzeit hatte er wieder Zeiten und Weiten zum Vergleich. Als dann die Zehnkämpfer im Fernsehen kamen, „habe ich zu meinem Bruder gesagt, dass ich in den Disziplinen gar nicht so weit von den Typen weg bin.“ Scherzhaft ergänzte Walser, der Mathe und Physik auf Gymnasial-Lehramt studiert: „Ich fange mit Leichtathletik an, dann bin ich mit Training locker in Paris 2024.“
Para Leichtathletik statt American Football
Mittlerweile könnte sich der flapsige Spruch bewahrheiten, denn Walser ließ seinen Worten Taten folgen. Beim TSV Schwaben Augsburg fand er schnell einen Leichtathletik-Verein in der Nähe. Ein wichtiger Schritt, da Walser seit etwas mehr als zehn Jahren Retinitis Pigmentosa hat, eine fortschreitende Augenkrankheit, die verkürzt gesagt die Nervenzellen auf der Netzhaut zerstört. Dadurch ist er nachtblind, sein Gesichtsfeld ist sehr eingeschränkt und er sieht auf beiden Augen nur wenige Prozent. In seinem Verein trainierte mit Luana Neburagho bereits eine Para Leichtathletin, die auch im deutschen Nachwuchskader ist. Dadurch war über deren Trainerin Jadranka Askovic schnell der Kontakt zum bayrischen Landestrainer Carlos Ávila de Borba hergestellt. „Er sagte: Wenn Du Lust hast, im Para Sport zu starten, könnte es klappen, dass du bald weltklasse bist. Und ich meinte: Ja klar, warum nicht?“, sagt Walser schmunzelnd und ergänzt: „Ich weiß nicht, ob das alles ohne diese Begegnung so schnell funktioniert hätte.“
Dass Walser direkt konkurrenzfähig war, kam nicht von ungefähr. Schließlich spielte er früher Fußball in der Bezirksoberliga und fing mit 16 Jahren mit American Football an – auf der Position des Defensive End, „weil nur das mit den Augen funktionierte, ich kann schlecht in der Offense Bälle fangen.“ Bei den Königsbrunn Ants spielte er so stark, dass ihm Leute rieten, es in der Bundesliga zu probieren. „Das war aber keine Option. Ich kann eben kein Autofahren und abends nicht spielen oder trainieren, weil ich in der Dunkelheit nichts sehe. In meinem Verein wusste jeder Bescheid und hat darauf Rücksicht genommen.“ Auch der Traum von der amerikanischen Profiliga NFL war utopisch, „weil ich dafür mit 16 Jahren zu spät angefangen habe, um auf die Highschool zu gehen.“ Immerhin ist mit JJ Watt ein Footballspieler nach wie vor sein Vorbild: „Seine Art zu spielen, wie er das Training durchzieht und das Commitment, das dahintersteckt – das beeindruckt mich.“
Beim DM-Debüt auf Anhieb Zweiter hinter Markus Rehm
All diese Erfahrungen helfen nun, dass Walser seinen Traum vom Leistungssport nach mehreren Umwegen leben kann. „Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich mein ganzes Leben lang nur Sport machen“, sagt Walser und lacht. Rund zwei Monate, nachdem er überhaupt mit der Leichtathletik angefangen hatte, landete er bei den deutschen Para Meisterschaften in Regensburg direkt hinter dem „Blade Jumper“, dem dreifachen Paralympics-Sieger und Weltrekordhalter Markus Rehm. „Das war brutal, live zu sehen, wie man so weit springen kann“, sagt Walser, der anschließend in den Nachwuchskader 1 des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) aufgenommen wurde und in diesem Jahr beim Grand Prix im italienischen Jesolo sein internationales Debüt feierte.
„Er hat sich in diesem Jahr sehr gut entwickelt und kontinuierlich verbessert“, sagt Nachwuchs-Bundestrainerin Paula Lassner, die Walser als ehrgeizigen, klugen, ruhigen, fleißigen und verlässlichen Typen schätzt: „Ich hoffe, dass er bei der WM Erfahrungen sammelt, viel lernen kann für zukünftige Meisterschaften und trotz der für ihn neuen, hoffentlich großen Kulisse an seine guten Leistungen der letzten Wochen anknüpfen kann. Und natürlich hoffe ich, dass er die Zeit genießt und ihn das nur noch mehr motiviert für die Zukunft.“ Von den 6,22 Metern bei der DM 2022 verbesserte sich Walser auf 6,70 Meter in dieser Saison, bevor er bei der DM in Singen Ende Juni auf 6,96 Meter flog. Damit verbesserte sich Walser von Platz fünf auf Rang drei der Weltrangliste in seiner Startklasse. „Schon im ersten Versuch habe ich mit 6,80 Metern meine Bestweite getoppt, der letzte mit 6,96 Metern war, soweit ich weiß, mein weitester Sprung überhaupt. Ich habe gar nicht damit gerechnet. Fast sieben Meter ist schon eine Hausnummer.“
Paris 2024 und eine internationale Medaille als Ziel
Große Erwartungen halst sich Walser aber nicht auf, wenngleich er als Drittbester der Welt am Freitag nach Paris reist: „Das ist mein allererstes Mal und auch wenn ich von der Weite her auf eine Medaille schielen dürfte, will ich alles einfach aufnehmen. Was am Ende dabei herumkommt, sehen wir dann.“ Wie spannend es werden könnte, verrät der genauere Blick auf die Weltrangliste 2023: Said Najafzade aus Aserbaidschan ist mit 7,11 Metern an der Spitze, einen Zentimeter dahinter folgt Tokio-Paralympics-Sieger Amir Khosravani aus dem Iran und dann eben Walser mit 6,96 Metern. Drei Zentimeter weniger weisen der Argentinier Fernando Vazquez und der Japaner Daiki Ishiyama auf. Titelverteidiger Doniyor Saliev, der 2019 mit 7,44 Metern zum WM-Sieg gesprungen war, ist mit 6,62 Metern nur auf Rang sechs zu finden, der damalige Silbermedaillengewinner Kar Gee Wong aus Malaysia auf dem siebten Platz. „Es müssen alle erstmal springen, auch ich muss einen guten Sprung hinlegen. Ich weiß, dass ich die Weite drauf habe und alles möglich ist. Die Frage ist nur, ob es an dem Tag sein wird“, sagt Walser, dessen Vater sich extra freigenommen hat, um in Paris am 12. Juli beim Weitsprung-Wettbewerb im Stadion dabei zu sein: „Meine Mutter ist Lehrerin, da ging das leider nicht so einfach.“
Selbst wenn es in diesem Jahr nicht mit einer Medaille klappen sollte, wäre Walser nicht allzu traurig. „Es gibt ja nächstes Jahr noch mehr Möglichkeiten, welche zu gewinnen.“ Zunächst werden in Japan die Weltmeisterschaften ausgetragen, anschließend die Paralympics in Paris. Und irgendwann, so viel steht für Andreas Walser fest, möchte er es unbedingt aufs Treppchen schaffen: „Ob EM, WM oder Paralympics ist egal – das wäre schon ein großes Ziel.“
Hier geht’s zur allgemeinen WM-Vorschau mit der Übersicht des deutschen Aufgebots sowie zum Livestream-Link.
Text: Nico Feißt / DBS