„Laufen ist krass“
„Talent days“ in Leverkusen bringen Kinder und Jugendliche mit Prothesen zum Sport
Sprint, Weitsprung, Speerwurf – für amputierte Menschen eine Herausforderung und mit ihren Alltagsprothesen kaum möglich. Um Kindern und Jugendlichen mit Beinamputationen an den Sport heranzuführen und für die Leichtathletik zu begeistern, veranstalteten drei Partner die „Talent days“ vom 18. bis 20. September: Der Deutsche Behindertensportverband (DBS), der TSV Bayer 04 Leverkusen sowie Medizintechnikhersteller und Paralympics-Förderer Ottobock. Acht TeilnehmerInnen im Alter von acht bis achtzehn Jahren lernten am vergangenen Wochenende spielerisch, sich mit Sportprothesen zu bewegen und setzten dabei ihre ganz persönlichen neuen Grenzen fest. Immer dabei: Trainer und Paralympics-Goldmedaillengewinner Heinrich Popow sowie Johannes Floors, sechsmaliger Weltmeister und Weltrekordhalter über 400 Meter der doppel-unterschenkelamputierten Para-Leichtathleten.
Erste Schritte auf einer Sportprothese
Orthopädietechnik-Meister und Sportprothetik-Experte Julian Napp und sein Team passten den Kindern am Talent days-Wochenende erstmals eine Sportprothese an. Darunter Emily aus Neuss in Nordrhein-Westfalen. Zunächst stand die 13-Jährige schüchtern neben ihrem Vater, dann ging sie vorsichtig die ersten Schritte. „Ich wette mit dir, dass du morgen rennst“, sagte Heinrich Popow zu Emily – und genau so war es. Beim Koordinations- und Lauf-Training am Samstag mit Sara Grädtke (Para-Leichtathletik Trainerin TSV Bayer 04 Leverkusen) und Helena Pietsch (Co-Bundestrainerin für den Nachwuchs- und Juniorenbereich) wuchs Emily über sich hinaus: „Ich bin schneller gelaufen, als ich es je gedacht hätte. Wenn man es will, dann kann man es auch.“ Auch ihr Vater ist begeistert von der Entwicklung: „Emily ist noch nie wirklich in ihrem Leben gerannt. Sie saß lange im Rollstuhl. Und das jetzt hier zu sehen, wie sie mit den anderen Kindern läuft und spielt, ist toll.“ Emily wird ab jetzt einmal die Woche zum Training beim TSV Bayer 04 Leverkusen kommen.
Der Wind im Gesicht
Der 18-jährige Viet ist aus Norden in Niedersachsen angereist, um an den Talent days teilzunehmen. Seit zwei Jahren ist sein Bein auf Oberschenkelhöhe amputiert. Viet hatte früher schon Erfahrungen im Badminton gesammelt. Jetzt, nach seiner Amputation, träumt er davon, wieder schnell und ausdauernd laufen zu können. Nach seinen ersten Schritten mit der Sportprothese beschreibt er seine Eindrücke: „Das Gefühl beim Laufen ist krass, vor allem, weil mir dabei der Wind ins Gesicht weht. Das kannte ich so gar nicht mehr.“ Viet war danach nicht mehr zu stoppen. Selbst in den Pausen lief er auf der Wiese hin und her. Zum Abschluss des ersten Tages ist er zum Hotel gejoggt, während Coach Heinrich Popow seine Sachen mit dem Auto hinterher gebracht hat.
Motivation für den Sport
Drei der TeilnehmerInnen hatte Heinrich Popow schon vor ihrer Amputation im Krankenhaus kennen gelernt. Er kümmert sich häufig um Kinder und Jugendliche, die vor der Operation stehen, um ihnen und auch ihren Eltern Mut zu machen. So war es auch bei Elias. Der Achtjährige trainiert seit zwei Jahren beim TSV in Leverkusen und begeisterte sich bei den Talent days besonders für den Weitsprung. Ohne Heinrich Popows Besuch im Krankenhaus vor und nach seiner Amputation, wäre Elias wahrscheinlich nicht so schnell zum Parasport gekommen, so seine Mutter.
Viele Eltern von Kindern mit einer Amputation wissen gar nicht, dass es Sportmöglichkeiten und auch Sportprothesen für ihre Kinder gibt. Helena Pietsch, die für den Nachwuchsbereich im DBS zuständig ist, betont, dass jedes Kind in Deutschland sogar die Möglichkeit hat, eine adäquate Prothese für die Teilhabe am Sportunterricht in der Schule zu erhalten. „Damit Kinder und Jugendliche mit einer Amputation am Schulsport teilnehmen können, brauchen sie eine Prothese, welche schnelle Bewegungen zulässt. Dies wird von den Krankenkassen unterstützt. Wir arbeiten daran, dass solche Informationen betroffene Eltern schneller erreichen.“
Auch die Talent days selbst tragen dazu bei, die Möglichkeiten, die es für amputierte Kinder gibt, bekannter zu machen. Aufgrund der aktuellen Coronavirus-Situation fand die Veranstaltung dieses Jahr im kleinen Rahmen statt. Der DBS, der TSV Bayer 04 Leverkusen und Ottobock möchten Kooperation im kommenden Jahr weiter ausbauen.
Jörg Frischmann, Geschäftsführer der Para-Abteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen, über das Erfolgsrezept der Veranstaltung: „Der Teamspirit, den wir beim Talent days erlebt haben war überragend. Sowohl die Teilnehmerinnen und Teilnehmer untereinander als auch das Orga-Team mit Trainern, aktiven Sportlern und Orthopädietechnikern bildeten eine Einheit. Und der ein oder andere hatte sogar Tränen in den Augen, weil es so bewegende Momente gab. Der Mix aus Prothesenaufbau, Sport, Spiel, Small Talk mit einem Leitwolf und Motivator Heinrich Popow macht schon jetzt Lust auf die nächste Auflage.“
Quelle: Ottobock