„Gesucht und gefunden“: Tokio ist das gemeinsame Ziel
Para Leichtathletik-EM: Mit einem viermaligen Olympioniken als Guide an der Seite will es der sehbehinderte Sprinter Marcel Böttger zu den Paralympics nach Tokio schaffen
Marcel Böttger startete erst vor knapp zwei Jahren mit der professionellen Leichtathletik – auch, weil ihm ein Guide fehlte. Jetzt hat der sehbehinderte Sprinter mit Alexander Kosenkow einen erfahrenen Olympioniken an seiner Seite und hofft darauf, sich bei der EM vom 1. bis 5. Juni im polnischen Bydgoszcz für die Paralympics in Tokio (Japan) empfehlen zu können.
„Manchmal frage ich mich, wie es gelaufen wäre, wenn ich 15 Jahre früher angefangen hätte“, sagt Marcel Böttger über die Tatsache, dass er erst seit Anfang 2019 professionell Leichtathletik betreibt und jetzt mit 28 Jahren auf seine erste Paralympics-Teilnahme hinarbeitet. Dass es so gekommen ist, liegt auch an Alexander Kosenkow. Der 44-Jährige war von Athen bis Rio bei vier Olympischen Spielen dabei, gewann vier Mal EM-Silber mit der deutschen 4x100-Meter-Staffel und durfte sich drei Mal über 100 Meter und ein Mal über 200 Meter Deutscher Meister nennen. 2018 feierte er dann als Guide zusammen mit der sehbehinderten Sprinterin Katrin Müller-Rottgardt sein internationales Debüt und gewann mit ihr Gold über 100 und Silber über 200 Meter.
Doch Müller-Rottgardt hatte einen anderen Laufstil, eine andere Sprinttechnik als Kosenkow – es harmonierte nicht gänzlich. „Wir waren erfolgreich, haben aber nicht die Zeiten gebracht, die sie jetzt mit Noel läuft. Er passt besser zu ihr“, sagt Kosenkow über seine ehemalige Sprintpartnerin und deren Guide Noel Fiener, die jüngst die Norm für die Paralympischen Spiele unterboten. Und weil Kosenkow und Müller-Rottgardt nach der Heim-EM 2018 getrennte Wege gingen, Kosenkow aber trotzdem vom paralympischen Sport begeistert war, schrieb er Böttger an, den er ebenfalls aus Wattenscheider Zeiten kannte.
Marcel Böttger bezeichnet Alexander Kosenkow als "sein Auge" auf der Laufstrecke
„Wir hatten schon mal so rumgespaßt, dass wir es probieren könnten. Aber er hatte noch jemanden, also haben wir es nicht gemacht“, sagt Böttger, der auf rechten Auge eine Sehkraft von null, auf dem linken von zwei Prozent hat und deshalb 100 Meter besser mit Guide sprintet: „Als wir es dann ausprobiert haben, dachten wir sofort: Oh ne, das funktioniert überhaupt nicht – doch dann ging es nach ein paar Wochen. Alex als erfahrener Guide wusste, dass das anfangs nicht funktionieren kann und deshalb sind wir dran geblieben. Es wurde immer besser.“
Vor der Weltmeisterschaft 2019 in Dubai bezeichnete Böttger Kosenkow in einem Interview als „sein Auge“ auf der Laufstrecke, weil es schwierig sei, sich bei solchen Geschwindigkeiten auf jemanden zu verlassen. Dass Böttger hochtalentiert ist, war danach nicht mehr zu verheimlichen: Das Duo schaffte es über 100 Meter in 11,10 Sekunden auf Platz sieben. Trotz pandemiebedingter Trainingsunterbrechnung verbesserten die beiden ihre Bestzeit im Juli 2020 auf 11,06 Sekunden, die Tokio-Norm von 10,87 Sekunden war da schon längst ein ständiges Thema. „Marcel macht erst seit zwei Jahren Leistungssport, er hat sein Optimum noch lange nicht erreicht“, sagt Kosenkow, der mit verfolgt hat, dass Böttgers Zubringerwerte im Winter vor den Paralympics richtig stark sind: „Das hat alles in Richtung 10,80 Sekunden gedeutet, doch dann fand die Hallensaison nicht statt.“ Und schlimmer noch: Böttger erkrankte im Frühjahr an Corona, was ihn zwei Monate kaum bis gar nicht trainieren ließ und ihn auf dem Weg nach Tokio zurückwarf.
Doch so langsam und vermutlich gerade rechtzeitig ist Böttger, der mittlerweile für die BSG Bad Oeynhausen startet, wieder fit: „Es geht mir besser und wir sind auf einem sehr guten Weg dahin, wo wir Ende letzten Jahres, Anfang diesen Jahres waren.“ Ein bis zwei Mal die Woche trainieren beide zusammen, weil zwischen Böttgers Lebensmittelpunkt in Witten und Kosenkows Wohnort in Steinfeld 180 Kilometer liegen. Ansonsten folgt Böttger Kosenkows Plan, um noch schneller zu werden – mal vor, mal nach seiner täglichen Arbeit als Physiotherapeut. Das gemeinsame Training mit Kosenkow bringt Böttger jedes Mal einen Extraschub Motivation – körperlich wie mental: „Wenn du zu zweit bist und du hinterherläufst, gibst du immer noch ein bisschen mehr. Und wenn er von seiner Karriere erzählt, was er erreicht hat und wo er war, denke ich immer: Das will ich auch mal erleben.“
Doch nicht nur Kosenkow fordert Böttger – auch umgekehrt. „Mit seinem Alter unter elf Sekunden zu laufen, ist auf jeden Fall sportlich“, sagt Böttger schmunzelnd und Kosenkow, der als Sportsoldat in Warendorf stationiert ist, ergänzt: „Mit Marcel laufe ich immer volles Rohr und investiere alles, was ich habe, in den Moment. Der ist selbst so schnell, da darf ich mir keine Pause gönnen. Wenn ich ein bisschen schwächle, bin ich ihm keine Hilfe. Deshalb bleibe ich professionell und fokussiert, dass ich meine Leistung und die Form auf die Bahn bringe und davon profitiere ich.“ Und letztlich auch Marcel Böttger.
„Die Norm wäre richtig gut und wenn wir dann eine Medaille mitbringen, wäre es umso schöner“
Die Arbeit scheint sich auszuzahlen: Nach dem besten Saisoneinstieg der beiden mit 11,19 Sekunden in Leverkusen folgten beim Grand Prix in Nottwil zwar nur 11,44 Sekunden, allerdings herrschten dort mit strömendem Regen und Gegenwind „Katastrophen-Bedingungen“, wie Kosenkow sagte. Böttgers Zeiten deuten in Richtung Bestzeit und als ob es bei guten Bedingungen erstmals unter elf Sekunden gehen könnte. „Ein Erfolgserlebnis bei der EM wäre auch deshalb wichtig, weil wir von der Norm von 10,87 Sekunden noch weit weg waren in diesem Jahr“, sagt Böttger: „Die Norm wäre schon richtig gut und wenn wir dann eine Medaille mitbringen, wäre es umso schöner.“
Kosenkow ist überzeugt, dass das möglich ist: „Wir sind noch nicht bei 100 Prozent, aber wenn wir bei der EM in Richtung Bestzeit um die elf Sekunden kommen, bin ich zuversichtlich, dass wir bei den Paralympics topfit wären. Das ist unser Hauptziel. Wir können bei der EM die große Überraschung schaffen und eine Top-Zeit hinlegen, aber erstmal wollen wir ins Finale und dann um die Medaille kämpfen.“
Und selbst wenn es nicht mit der Norm klappt, könnte die neue 4x100-Meter-Universal-Staffel noch eine Hintertür für die beiden auf dem Weg nach Tokio sein. In Tokio sind erstmals zwei Männer und zwei Frauen mit vier unterschiedlichen Behinderungen am Start, für Deutschland kommen mit Sehbehinderung Böttger oder Katrin Müller-Rottgardt infrage. Auch wenn Böttger sich selbst ohne Normerfüllung noch nicht als Staffelkandidat wähnt, traut Kosenkow ihm das zu. „Die Staffel ist immer ein Highlight. Da läuft Team Deutschland und das ist eine attraktive Sache. Marcel kann der Staffel helfen. Ich bin überzeugt, dass er in seiner Klasse in der Kurve der schnellste der Welt ist. Er fühlt sich in der Kurve so wohl, da bräuchte er mich gar nicht“, sagt Kosenkow, der selbst als Staffelspezialist und ausgezeichneter Kurvenläufer bekannt war: „Da haben wir irgendwo die gleichen Stärken. Wir haben uns quasi gesucht und gefunden.“
Quelle: Nico Feißt