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Andrea Eskau: Jagd auf ihr erstes Winter-Gold
Handbike-Marathon-Weltrekordlerin, zehnfache Welt- und zigfache Deutsche Meisterin ist Andrea Eskau bereits. Auch paralympische Goldmedaillen hat sie gewonnen – bei Sommerspielen. Nun will die 42jährige bei den Winter-Paralympics in Sotschi ihre Gold-Sammlung erweitern. Nicht nur ihr Trainingseifer und ihre Detailversessenheit machen das Multitalent zu einer absoluten Ausnahme-Athletin.
Das Poster mit dem Bergpanorama, auf das Andrea Eskau während ihres Trainings in der Höhenkammer blickt, lenkt nur ein wenig von den Entbehrungen ab. Immerhin sorgt es für etwas Winteratmosphäre. Und führt ihr das nächste große Ziel vor Augen. Eskau weiß ohnehin, wofür sie sie sich während der letzten Wochen und Monate so ins Zeug legt. In weniger als hundert Tagen startet Eskau in Sotschi bei den Paralympics. Dort will sie erstmals auch Gold in – mindestens – einer Winterdisziplin. Seit dem Spätsommer 2012 trainiert die 42jährige darauf hin. Sie gilt als große Favoritin. Und weiß, wie’s geht. Die Handbikerin, Biathletin und Ski-Langläuferin holte zuletzt bei den Paralympics in London jeweils Gold im Zeitfahren und im Straßenrennen.
Praktisch mit dem Ausklang der Siegerhymne machte Eskau damals klar: „Das hier ist wunderschön, aber von jetzt an zählt nur noch Sotschi.“ Wer das ehrgeizige Multitalent kennt, weiß, warum so kurz nach dem Triumph in London unbedingt gleich das nächste große Ziel her musste. Die Enttäuschung, es 2010 in Vancouver ‚nur’ zu Skilanglauf-Silber und Biathlon-Bronze gebracht zu haben, wirkt nach. Bis heute. Ihre Unzufriedenheit hat indes nicht nur mit der Farbe des Edelmetalls, sondern vielmehr mit der nicht optimalen Vorbereitung auf die damaligen Winterspiele zu tun. „Man kann mich ruhig Perfektionistin nennen. Aber nach Vancouver habe ich mir gesagt, dass ich endlich mit dem Gefühl zu Winter-Paralympics fahren will: Mehr geht nicht“, so Eskau.
Die Diplom-Psychologin trainiert neben ihrer beruflichen Tätigkeit am Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Bonn im Schnitt zweimal täglich. Jeweils eineinhalb Stunden. Ein immenses Pensum. Beinahe genauso viel Zeit investiert die Allrounderin in die technische Optimierung, sei es an ihren Handbikes für die Sommersaison, an ihren Trainings- und Wettkampfschlitten oder am Biathlongewehr.
Spitzensport in drei unterschiedlichen Disziplinen, ein fester Job und die alltäglichen logistischen Probleme, die ihre Querschnittlähmung nun einmal mit sich bringen – für Andrea Eskau sind dies keine Hindernisse, höchstens Herausforderungen. Wer mit Ihr spricht, kann die Begeisterung für den Sport förmlich spüren. Man erfährt viel von ihr – und wer sie nicht bremst, gerät schnell in einen Vortrag über die richtige Munitionsauswahl oder die Feinjustierung der Radaufhängung am Trainingsschlitten. „Manchmal rede ich wie ein Buch“, sagt Eskau über ihre Auskunftsfreudigkeit, „aber diese Dinge sind eben wichtig für mich. Vor allem im Hinblick auf Sotschi.“ Auch das letzte Detail soll stimmen. Und so verbrachte Eskau in diesem Jahr mehrere Tage bei Orthopädie-Meister Martin Rapp im Schwarzwald, um die Sitzfläche an Ihrem Schlitten perfektionieren zu lassen. „Der neue Schlitten sitzt perfekt, ähnlich einer Prothese. So habe ich auch bei Kurven und Abfahrten die optimale Kontrolle“, sagt Eskau, die in Sotschi insgesamt sieben Mal die Chance auf Gold haben wird, weil sie sowohl im Biathlon als auch im Skilanglauf mehrfach antritt.
Dass der Behindertensport in vielen Disziplinen allein von der Technik entschieden wird, bestreitet Eskau: „Gerade in den Winterdisziplinen habe ich einen internationalen Austausch erlebt, der die Chancengleichheit befördert. Hier wird der Konkurrenz noch immer mit einem Ersatzteil ausgeholfen, das ist bei den Handbikern leider manchmal anders.“ Um trotz dieser Chancengleichheit gegen die größtenteils weit jüngere Konkurrenz bestehen zu können, gönnt sich Eskau so gut wie keine Pause. Bereits sechs Mal absolvierte sie 2014 mehrtägige Trainingslager im Oberhofer Skitunnel. Zuletzt standen zudem täglich zweistündige Einheiten in künstlicher Höhenluft auf dem Programm. „In meinem Trainingsraum an der Kölner Sporthochschule herrschen Bedingungen wie auf 3000 Meter Höhe. So kann ich auch in der Nähe meines Bonner Arbeitsplatzes unter sportartspezifischen Bedingungen trainieren.“
Das Training in der Höhenkammer oder die Einheiten draußen auf dem Cross-Schlitten, der Asphalt und Waldböden in sommerliche Loipen verwandelte, versinnbildlichen Eskaus Leben in zwei Welten: „Ich bin Sommer- und Wintersportlerin mit ganzem Herzen, mittlerweile ohne Präferenzen. In Thüringen habe ich ja auch schon als Kind Wintersport betrieben.“ Später, nach ihrem folgenschweren Rad-Unfall 1998, landete sie durch die Anschaffung eines ersten Handbikes zunächst bei der Sommerdisziplin, auf der Straße. Und auch im Jahr vor Sotschi konnte sie nicht von den Rad-Wettkämpfen lassen, holte zweimal WM-Gold bei den Straßenrennen im kanadischen Baie-Comeau und führt weiter die Weltrangliste im Para-Cycling an. „Man muss schon verrückt sein, wenn man sich diese zwei Saisons antut. Für mich ist es aber eher eine logistische Herausforderung als eine Frage der Kondition oder Motivation“, beschreibt Eskau ihr sportliches Doppelleben und den Umstand, dass Titelkämpfe in der einen Disziplin normalerweise die gezielte Vorbereitung auf die andere stören. Normalerweise – was heißt das schon für Andrea Eskau?
Ab sofort kann sie sich jedenfalls voll und ganz auf Sotschi konzentrieren. Die World-Cup-Serie endet mit den Biathlon-Wettbwerben vom 23. bis 26. Januar 2014 in Oberried. Spätestens dann wird Andrea Eskau wissen, wie sie sich vor den Paralympics in Russland (8. bis 16. März) einzuordnen hat. Bleibt die Allrounderin verletzungsfrei, ist sie bei ihren vermutlich letzten Winter-Paralympics Deutschlands Gold-Kandidatin Nummer eins. Ob sie im Erfolgsfall bereits beim Abspielen der Siegerhymne an Rio 2016 denken wird, ist eine andere Frage.
Quelle: Gunnar Hassel