Aktuelles aus dem Bereich Sportentwicklung
BSN-Projekt „Von Behindertensportlern lernen!“
Meller Schüler zeigen keine Berührungsängste
„Ich wünsche mir nicht, lange Arme zu haben, sondern eher, dass ich gesund bleibe“, antwortete Josef Giesen auf die Frage nach seinem größten Wunsch und brachte die Schüler und Schülerinnen des fünften und elften Jahrgangs des Gymnasiums Melle mit diesen Worten zu ungläubigem Staunen. Josef Giesen ist Paralympicssieger im Biathlon und wurde durch eine Contergang-Schädigung mit stark verkürzten Armen geboren. Dass er sich etwas Anderes wünscht als ohne Behinderung zu leben, hat mögliche Berührungsängste der Gymnasiasten schnell abgebaut. Nicht nur deshalb steht fest: Die zum zweiten Mal vom Behinderten-Sportverband Niedersachsen (BSN) durchgeführte Projektreihe „Von Behindertensportlern lernen!“ hat mit einem Projekttag am Gymnasium Melle seine erfolgreiche Fortsetzung erfahren.
Ein wesentliches Ziel, Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderung abzubauen und die Vielfalt und Leistungsfähigkeit im Behindertensport vorzustellen, um damit die Schüler für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren, ist auch in diesem Jahr eindrucksvoll gelungen.
Besonders die jüngeren Schüler zeigten sich bereits bei der Podiumsdiskussion als kritische Gesprächspartner, die dem Paralympics-Medaillengewinner Josef Giesen ohne jegliche Scheu allerhand Fragen stellten. Wettkampf und Training interessie-rten die Schüler, aber auch ganz persönliche Dinge aus dem privaten Alltag des Biathleten wollten die Fünftklässler erfahren. Aufmerksam folgten sie Giesens Aus-führungen. „Wie können Sie ohne Arme schreiben?“ und „Haben sie eine schöne Schrift?“ wollten die Schüler wissen, oder „Warum tragen Sie keine Prothesen?“ Aber auch Fragen zum Zähneputzen, Autofahren und Einkaufen stellten die Schüler, und Josef Giesen ließ bei der Beantwortung keine Frage aus.
Humorvoll und schlagfertig gewährte er den Schülern und Schülerinnen der Jahr-gangstufen fünf und elf Einblicke in sein Leben, zeigte sich beeindruckt vom Wis-sensdurst der Gymnasiasten und gab auch die eine oder andere Anekdote zum Bes-ten. „Wenn ich beim Autofahren den Leuten zuwinke, gucken die immer ganz irri-tiert. Schließlich bediene ich das Auto mit den Füßen und habe dann die Arme frei.“
Ganz kurz zögerte Josef Giesen dann aber doch, als ein Schüler fragte, was ihn denn an seiner Behinderung am meisten störe. „Eigentlich nichts, denn wenn ich Arme hätte, hätte ich nicht so viel erlebt und nicht so viel von der Welt gesehen“, sagte er nach kurzem Überlegen und spielte damit unter anderem auf seine Teilnahme an vier Paralympics an.
Es gibt fast nichts, das der Biathlet nicht schon ausprobiert hätte. Radfahren, Schwimmen, Alpin-Ski – „nur das Handballspielen hat dann doch nicht so gut funk-tioniert“, sagte er mit einem Schmunzeln. „Ich hätte nicht gedacht, dass er so viel machen kann“, staunte die zehnjährige Marika, die selbst zweimal pro Woche Leichtathletik betreibt und schon einige Medaillen gewonnen hat. „Er hat uns gezeigt, dass man auch mit einer Behinderung erfolgreich Sport treiben kann und dass jeder auch schwierige Sachen ausprobieren sollte.“ Josef Giesen hat aber auch gezeigt, dass über eine Behinderung gesprochen werden darf und ist damit bei den Schülerinnen und Schülern auf sehr offene und positive Resonanz gestoßen.
Offen für Neues und überaus engagiert zeigten sich die Fünft- und Elftklässler auch im anschließenden Workshop Rollstuhlbasketball. Da flossen anfangs sogar Tränen, weil nicht für alle Schüler ein Sportrollstuhl zur Verfügung stand. Am Ende waren jedoch alle glücklich, weil dank des Organisationstalents der Bundesligaspieler Mar-tin Kluck und Tan Caglar und des ehemaligen Bundestrainers Frits Wiegmann jeder Gelegenheit bekam, sich mit dem unbekannten Sportgerät vertraut zu machen. Mit Feuereifer befolgten die Gymnasiasten die Anweisungen der Trainer, übten das Be-schleunigen, das Bremsen und das Slalom fahren, bevor es tatsächlich zum ersehn-ten Spiel mit dem Basketball kam. „Das eine oder andere Talent haben wir dabei durchaus entdeckt“, waren sich die Trainer mit einem Augenzwinkern einig.
Die Botschaft des Projekttages „Von Behindertensportlern lernen!“, der von der Nie-dersächsischen Lotto-Sport-Stiftung, der Firmengruppe-Hänsch-Stiftung und der Heiner-Rust-Stiftung unterstützt wird, ist in jeder Hinsicht bei den Kindern und Ju-gendlichen angekommen. „Gib niemals auf – das nehme ich als Motivation für mich selbst mit“, sagte die elfjährige Emilia stellvertretend für alle Schüler, die an dem Projekt teilgenommen haben. „Es gibt nichts, das man nicht ausprobieren kann“, hat in diesem Sinn auch Eric erkannt.
BSN-Präsident Karl Finke hob in seinem Dankschreiben an Schulleiter Ludwig Woll den außerordentlichen Einsatz der Lehrkräfte hervor. „Das Engagement beider Jahr-gangsstufen war sowohl bei der Podiumsdiskussion als auch in der Praxis beeindru-ckend intensiv“, befand auch Herbert Michels, Vizepräsident des BSN. Für den BSN Motivation genug, das Projekt weiterzuführen.
Text: Heike Werner