Aktuelles von den Paralympics

Vom Polarkreis zum paralympischem Traum

Johanna Welin im Rollstuhl in Aktion
Quelle: Andreas Joneck

Rund hundert Kilometer nördlich des Polarkreises liegt die kleine Gemeinde Pajala in der schwedischen Provinz Norrbotten. Eines der größten Feste in dem Dorf an der finnischen Grenze mit seinen 1.958 Einwohnern ist wie überall in dieser Region das Mittsommerfest am 24. Juni, wenn die Sonne den nördlichsten Punkt ihrer Umlaufbahn erreicht und ganz Lappland in die schönsten Farben taucht. In der Sonnwendnacht des Jahres 1984 ist im beschaulichen Pajala ein Mädchen geboren, das nun, 28 Jahre später, bei den Paralympics in London antritt, um einen Traum zu verwirklichen: Johanna Welin will mit der deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft Gold gewinnen.

Der Weg aus Pajala nach London war für Johanna Welin weit und von vielen Wendungen gekennzeichnet. Heute gehört die Medizinstudentin aus München zu den zwölf besten Rollstuhlbasketballerinnen Deutschlands, auch wenn ihre sportliche Karriere zunächst in eine ganz andere Richtung verlief. Fußball im Sommer und Snowboarden im Winter waren die Passionen des schwedischen Mädchens, das sich selbst schmunzelnd als „stur“ bezeichnet. Diese Art von Sturheit ist jedoch eher eine Geradlinigkeit, die ihr im Sport die entscheidenden Faktoren Willenskraft und Energie vermittelt.

Mit ihrem Team Töreboda IK stieg die ambitionierte Fußballerin bis in die zweithöchste schwedische Spielklasse auf, doch die wahre Passion gehörte ihrem Snowboard. Tempo, Action und Adrenalin sind Schlagwörter, die Johanna noch heute beschreiben. 2004 in Göteborg nahm die damals 20-Jährige an einem spektakulären Big Air Contest teil, der ihr Leben veränderte. Ein Sturz. Doch dieser schicksalhafte Tag änderte wenig an ihrer Lebenslust und an ihrem Charakterzug, sich Ziele zu setzen.

Bereits im darauffolgenden Jahr spielte Johanna Welin für GRBK Göteborg Rollstuhlbasketball und nahm ihre beruflichen Ziele in Angriff. Zwei Semester Deutschstudium im österreichischen Innsbruck standen auf der Agenda der nun 22-jährigen, die beim deutschen Rekordmeister USC München in der zweiten Mannschaft zu spielen begann. Die ehemalige Snowboard-Fahrerin kämpfte sich nach oben bis in das Erstligateam der Bayern und in die Spitze der deutschen Bundesliga. Die Verlagerung ihres Wohnsitzes in die bayerische Landeshauptstadt war die logische Konsequenz einer Sportlerin, die ein einmal gestecktes Ziel nicht aus den Augen verliert.

Schnell wurde Johanna rund 3.000 Kilometer südlich ihrer Geburtsstadt Pajala heimisch, perfektionierte, trotz bajuwarischer Eigenheiten, die deutsche Sprache und machte so Bundestrainer Holger Glinicki auf sich aufmerksam. Sie erwarb die deutsche Staatsbürgerschaft und wurde in die deutsche Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft berufen, mit der sie 2011 im israelischen Nazareth im Europameisterschaftsfinale 48:42 über die Niederlande triumphierte. Doch nicht nur der sportliche Leiter der deutschen Damenauswahl wurde auf sie aufmerksam. Inzwischen ist Johanna Welin eine feste Größe in der bundesdeutschen Rollstuhlbasketballszene, sondern sie ziert als Fotomodell auch die Werbekampagnen der Sponsoren ING-DiBa und LoFric. Ihre ansteckend gute Laune, ihre Beharrlichkeit und ihr sportlicher Wille sind nicht nur auf dem Basketballparkett die Basis ihres Erfolgs.

Wenige Wochen vor den Spielen in der britischen Hauptstadt steht Johanna Welin vor der Verwirklichung ihres sportlichen Traums. Sie ist Teil eines Kollektivs, das Revanche für die Endspiele bei den Paralympics von 2008 in Peking und bei der WM 2010 in Birmingham nehmen will. Zweimal schnappten die US-Girls den Deutschen Gold weg, einmal fehlten nur 13 Sekunden. Doch 2012 scheinen die deutschen Rollstuhlbasketballerinnen mit Johanna Welin ihrem Dauerrivalen näher denn je zu sein. Zwei Testspielerfolge in Frankfurt am Main und beim Paralympic World Cup im britischen Manchester Ende Mai, lassen eine Wachablösung näher rücken.

Mit dabei ist Johanna Welin, die sich einen festen Platz im deutschen Team erkämpft hat. Reisen in die USA und nach Australien sollen in den kommenden Wochen zu Härtetests auf dem langen Weg zum paralympischen Traum für Johanna Welin und ihre Teamkolleginnen werden. Ein erstes Jubiläum hat die inzwischen 27-jährige Rollstuhlbasketballerin dabei bereits hinter sich: das 50. Länderspiel im Trikot des Deutschen Behindertensportverbandes.

In London soll die nächste Stufe ihrer Sportkarriere folgen: die Goldmedaille. Alle dazu erforderlichen Eigenschaften hat Johanna Welin. „Wenn ich etwas nicht erreichen oder ich meinen Willen nicht durchsetzen kann, dann bringt mich das auf die Palme“, sagt die 27-Jährige. Und das wollen weder Bundestrainer Glinicki noch ihre Mitspielerinnen riskieren.

Text: Andreas Joneck