Aktuelles von den Paralympics

"Mission Impossible" war erfolgreich

Der Sitzvolleyball-Bundestrainer im "DVV-Interview der Woche"

Die paralympischen Sommerspiele in London 2012 sind Vergangenheit und brachte den deutschen Sitzvolleyballern die erhoffte Medaille: Die Mannschaft von Bundestrainer Rudi Sonnenbichler (65 Jahre) gewann nach zum Teil dramatischen Fünfsatzspielen am Ende Bronze, bei einer hervorragenden Bilanz von 6:1-Siegen. Im „Interview der Woche“ äußert sich Bundestrainer Rudi Sonnenbichler, der erst seit März 2011 die Mannschaft betreut, zum paralympischen Turnier, zu seinem Team, zur Zukunft des deutschen Sitzvolleyballs und mehr.

Sie schickten nach dem Gewinn der Bronzemedaille eine Mail rum mit dem Inhalt „Mission impossible“ erfolgreich? Haben Sie und ihr Team Unmögliches möglich gemacht?
Sonnenbichler: "Ja, das denke ich! - Wir haben eine Turnierleistung abgeliefert, die in der kämpferischen Intensität, der spielerischen Qualität & der ausgelebten Emotionalität bislang noch von keiner deutschen SiVoBa-Nationalmannschaft adäquat abgeliefert werden konnte! 6 Spiele gewonnen, nur 1 Match - gegen den Paralympicssieger Bosnien und Herzegowina - verloren, als Weltranglisten-Achter angereist, als Gewinner der Bronze-Medaille zurückgeflogen! Seit 8 Jahren kein Sieg gegen den Vize-Europameister Russland, dann in London 2x 3:2 niedergekämpft, 12 Jahre gegen den Silbermedaillengewinner & Vize-Weltmeister Ägypten nicht gewonnen und auch dieses Profi-Team mit 3:1 besiegt....! Da kann man nur sagen "Mission Impossible" war erfolgreich!"

Wie verlief das Turnier insgesamt aus ihrer Sicht, wenn man Vorrunde, Ko-Runde und Spiel um Platz drei separat betrachtet?
Sonnenbichler: "Unser klares Ziel war es, nach der Vorrunde in unserer Gruppe Rang 1 oder 2 zu belegen, um den beiden Top-Favoriten BIH & IRAN in den Überkreuz-Spielen aus dem Weg zu gehen! Das haben wir als Gruppenerster ohne Niederlage geschafft! Schlüssel dabei das absolut umkämpfte 3:2 gegen Russland, das wir im 5.Satz dann relativ sicher in der Hand hatten! Leider hat Russland tags darauf Ägypten nach einem klaren 0:2-Satzrückstand mit 3:2 geschlagen, sodass wir plötzlich wieder in der Situation waren, gewinnen zu MÜSSEN, um nicht plötzlich mit nur einer Niederlage doch auf den 3.Vorrundenplatz zu rutschen!
Resumee Vorrunde: Harter, Kräfte raubender Kampf (1:47 Std. reine Spielzeit gegen Russland, 1:42 Std. reine Spielzeit gegen Ägypten) auf sehr hohem spielerischen Niveau , dem gewaltigen Unterstützungs-Chor der Briten auf den Rängen im Spiel gegen Großbritannien sehr konzentriert standgehalten - und mit Marokko ein sportlich relativ leichter Auftaktgegner, der uns auch emotional gut in die besondere Atmosphäre eines so bedeutenden Turniers kommen ließ!
Zwischenrunde: "Wie stark die psychische Belastung bei K.O.-Spielen ist, weiß jeder Leistungssport-Treibende! China hatte das Vorrundenspiel gegen Brasilien "geschenkt", da sie sich gegen uns doch bessere Chancen ausrechnete, als gegen die physisch sehr starken Russen! Gruppen-Vierter gegen den Gruppensieger, das schien für den Unkundigen eine klare Sache! Weit gefehlt, - dieses Schlüsselmatch gegen China war sicherlich psychisch & physisch das härteste des gesamten Turniers für meine Männer! China gehört technisch & taktisch - und in ihrer körperlichen Behändigkeit - zu den absolut aufstrebenden SiVoBa-Nationen! 0:2-Satzrückstand, trotz harter Gegenwehr des deutschen Teams - für viele in der Halle schien dies jetzt eine klare Sache, und für die zahlreichen englischen Fans auf der Tribüne, die eine Sensation witterten, Grund genug, die Chinesen frenetisch anzufeuern! Aber, das zeigt das Besondere dieser Mannschaft, obwohl nur mit 9 spielfähigen Spielern angetreten, wurde um jeden Ball gefightet, die Verteidigungs-Gummiwand der Chinesen immer wieder durchbrochen und schließlich nach 2:12 Std. (!!) reiner Spielzeit der Sieg im 5.Satz doch noch errungen!"
Halbfinale: Irgendwann war die Zeit, den körperlichen Akku + die mentale Kraft wieder aufzuladen, einfach zu wenig! Im Halbfinale gegen Bosnien und Herzegowina hatten wir keine Chance! Die Europameister kontrollierten unsere Aktionen in jeder Phase des Spiels, reagierten sofort auf alle taktischen Veränderungen, und es fehlte einfach an diesem Tag auch die emotionale Frische! Dazu hatte sich unser wichtigster Einwechselspieler Barbaros im Spiel gegen China eine sehr schmerzhafte Daumenverletzung zugezogen, so dass nach 0:2-Satzrückstand der 3. Satz von mir "geschenkt" wurde, um Körner für das kleine Endspiel um Bronze zu sparen!"
Bronze-Spiel: "Wie richtig diese Entscheidung war, wie gut unsere regenerativen Maßnahmen & die vorbereitenden Trainingsinhalte am Ruhetag vor dem Bronze-Spiel war, zeigte sich bei diesem Match! Spielerisch voll konzentriert und auch emotional wieder absolut auf der Höhe, entwickelte sich ein dramatischer Kampf um die Medaille! Spielerisch auf noch höherem Niveau als das Vorrundenmatch, von der Dramatik kaum steigerbar mit dem glücklicheren Ende für unser Team! Der erste entscheidende Höhepunkt dazu im 2.Satz! 0:1 Satzrückstand – und bei 21:24 schon 3 weitere Satzbälle für Russland zu einem 0:2! Doch mit höchstem Einsatz und großer Nervenstärke konnten wir zum 1:1 ausgleichen! - Dritter Satz wieder Russland, 4. Satz wir - der Tie-Break im 5.Satz musste bei 2 Teams auf Augenhöhe die Entscheidung bringen! 13:11 für Deutschland, plötzlich 14:13-Matchball für Russland, bevor schließlich mit 16:14 (!) der historische Sieg für unser Team geschafft war!"

Ihr Team zeigte Nervenstärke: Drei Partien gingen über fünf Sätze, alle konnten gewonnen werden. Typisch für ihre Spieler?
Sonnenbichler: "Nervenstärke kommt aus dem Wissen, dass man sich konditionell & spielerisch sehr fit fühlt! Die Spieler haben extrem hart gearbeitet! Die Entscheidung, den Spielerkader so aufzustellen, dass eine starke gegenseitige Wertschätzung und Kameradschaft solch harte Trainingseinheiten erst möglich machten - und letztendlich meine Entscheidung, nur 10 (!) statt der erlaubten 11 Spieler mitzunehmen, als klares Zeichen an alle, dass nur Athleten mit absoluter Leistungsbereitschaft Berücksichtigung finden!"


Sie saßen stets mit stoischer Ruhe auf ihrer Bank. Sah es auch so ruhig in Ihnen aus?

Sonnenbichler: "Wenn das Spiel beginnt, ist für die Trainer & Betreuer die Hauptarbeit getan! Jetzt kann hektischer Aktionismus und zu sichtbare Nervosität auf der Trainerbank das Team nur belasten! Außerdem fokussiert man sich auf den Gegner, um schnell auf spieltaktische Veränderungen reagieren zu können! Meine größte Nervosität verspürte ich im Spiel gegen England, weil ich unsicher war, ob die Männer das Spiel im Kopf nicht schon vorher gewonnen hatten. Und wenn dann knapp 8000 Zuschauer jede Aktion ihres Teams unterstützen, kann das für einen Favoriten plötzlich hart werden.. aber, es war nicht nötig, die Jungs waren Klasse!"

Wie ordnen Sie persönlich diesen Erfolg ein? Sie haben in ihrer Karriere ja bereits einiges erlebt.
Sonnenbichler: "Ich muss vorsichtig sein mit zu schnellem Urteilen - ich habe in den rund 40 Jahren `Volleyball´ so viele schöne Erlebnisse & Erfolge gehabt: Vize-Europameister, Goldmedaille mit den U20-Juniorinnen bei der Jugend-Olympiade in Murcia, 3.,4.,5.Plätze bei mehreren Weltmeisterschaften, Aufbau des Dorfvereins Creglingen zum Volleyball-Leistungszentrum mit Internat, zahlreiche Deutschen Jugend-Meistertitel bis in die 1.Bundesliga, Trainer von Erstligateams, und, und, und,...... - rund20 Jahre DVV-Bundestrainertätigkeit! - Immer im Mädchen- und Frauenbereich!! Aber, was ich jetzt in der Gesamtheit erlebt habe: Männervolleyball, Sportler mit einem körperlichen Handicap, die mindestens ebenso gut & hart trainieren, wie unsere Erstliga-Athleten, die spieltechnisch & taktisch auf gleichem Level sind, die aber alles leisten, ohne dass ihr Tun einer Öffentlichkeit bewusst ist, die absolute Amateure sind - und die es schon deshalb verdient haben, dass sie bei den Paralympics in London 2012 plötzlich eine öffentliche Aufmerksamkeit erlebt, eine Zuschauerresonanz und eine sportliche Plattform mit nie zuvor dagewesener sportlicher Leistungsdichte bekommen haben! Dieser historische Meilenstein auf dem Weg der Anerkennung, was Menschen mir Handicap auch auf sportlicher Ebene leisten können, das macht dieses Ereignis, glaube ich, doch zu meinem größten & prägendsten Erlebnis im Sport!"

Was sind die Ziele der deutschen Sitzvolleyballer für die Zukunft?
Sonnenbichler
: Es sind viele Dinge neu zu regeln, will man diesen tollen Sport neu beleben! Aktuell sind es nur wenige Vereine bzw. Abteilungen, die diesen Sport im Angebot haben! Insgesamt betreiben bei uns in Deutschland weniger Sportler noch regelmäßig Sitzvolleyball, als es beispielsweise allein in Teheran Männerteams (= 49) gibt! Wir müssen ganz schnell aktiv werden und auch (gesunden) Volleyballern aller Leistungsebenen den Zugang & die Teilnahme an SiVoBa- Wettkämpfen ermöglichen! Nur wer selbst einmal aktiv trainiert + gespielt hat, der kann ermessen, wie körperlich anstrengend, koordinativ schwierig und technisch-taktisch anspruchsvoll diese Art des Volleyball-Spielens ist! Dabei ist es eine tolle Ergänzung bzw. Alternative für (ältere, verletzte bzw. verunfallte) Athleten, ihren Volleyballsport weiterhin zu betreiben, wenn man nicht mehr richtig springen kann, aber noch über tolle Ballbehandlung, ein reaktionsschnelles Auge und spieltaktisches Verständnis verfügt! Ex-(Bundesliga)-Spieler, wie aktuell Sebastian Czapowski, können sich so evtl. sogar den Traum "OLYMPIA" erfüllen! Bis Brasilien (Rio 2016) sind es 4 Jahre!
Aber dazu muss ein Konzept greifen, das u.a. folgende Kernpunkte aufgreifen muss: Integration "SiVoBa" durch Kooperation DBS/DVV - Öffnung Spielbetrieb auch für Nichtbehinderte - Präsentation des Anforderungsprofils "SiVoBa" allen Bundesliga-, Landes- und Ausbildungstrainern, Integration von Ausbildungsinhalten "SiVoBa" in den Lehrbereich - Erweiterung des Stützpunktkonzepts - Finanzierung von (Stützpunkt-)Trainern aus Fördermitteln "A-Kaderstatus" des Männerteams!...."


Foto Andreas Joneck: Andreas Schiffler und seine Mitspieler hatten in London reichlich Grund zum Jubeln.

Und wie geht es mit Rudi Sonnenbichler weiter?
Sonnenbichler: "Im Moment ist vieles in der Schwebe! Ich bin zu lange dabei, um mich vom Moment blenden zu lassen! Das aktuelle Team bestand aus 10 Spielern, von denen mehrere aus Alters-, Berufs- und Familiengründen aktuell diese enorme Doppelbelastung nicht mehr aufbringen können bzw. wollen! Wenn sich nicht schnell uns auf breiterer Ebene (Aktiven- und Nachwuchsbereich) konzeptionell (s.o.) etwas tut, hat Sitzvolleyball auf dieser internationalen Leistungsebene keine Zukunft! In London hat sich gezeigt, dass hinter den Nationen mit massiver staatlicher Unterstützung und öffentlicher Anerkennung (Iran, Bosnien und Herzegowina, Ägypten, Russland) eine leistungssportliche "Aufrüstung" stattfindet, die bereits jetzt zu einem bislang noch nie dagewesenem Sitzvolleyball-Niveau geführt haben! Brasilien & China werden sich noch intensiver weiter entwickeln, sie haben bereits jetzt Spieler in den Reihen, die körperlich und spielerisch absolutes Bundesliga-Niveau haben (bei Brasilien ist z.B. ein Spieler der ehemaligen Goldmedaillen-Mannschaft dabei! Fast alle Teams haben Spieler mit Körperhöhen bis 2,14m (!) in ihren Reihen). Ich habe mit meinem Team eine erste Bestandsaufnahme gemacht, mit dem Verband ist in den nächsten Wochen ein Strukturgespräch geplant, in denen die Umsetzung der oben angeführten Konzeptpunkte erörtert wird. Und dann werde ich - so lange aktiv - alle positiven Aktivitäten unterstützen, bis abzusehen ist, dass wirklich was passiert! Ich werde aber nicht den Untergang dieser Sportart verwalten, das ist nicht mein Ding, dann sollte man mit einem Turnier, einem Team aufhören, das man zwei Jahre lang geformt & geprägt hat - einen verschworenen Haufen!"

Bis auf Bosnien und Herzegowina wurden alle Gegner in London geschlagen. Der spätere Goldmedaillengewinner sowie Weltmeister Iran (nicht Gegner in London) sind dem deutschen Team noch voraus, in welchen Bereichen?
Sonnenbichler: "Beide sind seit vielen Jahren eingespielt. Der Stamm beider Nationen hat in London die dritten Paralympics bestritten! In beiden Ländern gibt es einen Spielbetrieb mit mehreren Ligen, Russland hat das Team seit 8 Jahren in Ekaterinenburg konzentriert. Alle Sportler dieser Nationen sind zumindest Halbprofis und erfahren neben intensiver staatlicher Förderung hohe öffentliche Anerkennung und mediale Präsenz ! Noch extremer fast in Ägypten, deren "Absturz" als Vizeweltmeister im Lande extreme Wellen schlug - und was Brasilien & China bis Rio machen, das kann sich jeder ausrechnen, denkt er nur an die Leistungsexplosion Chinas bei den Spielen in London - und die Ballnation Brasilien wird das Förderprogramm zu "ihren" Spielen 2016 noch extremer hochfahren, als es bisher schon geschehen ist, nachdem sie den Zuschlag bekommen haben!"


Es wurde viel über die Paralympics und auch die Sitzvolleyballer berichtet. Was erhoffen Sie
sich nun für den deutschen Sitzvolleyballsport?
Sonnenbichler: "Es ist nichts so schnell vergessen, wie Erfolge in der ´Vergangenheit´! - London ist (leider) bereits Vergangenheit, und wenn nicht alle Volleyballer, ob stehend, sitzend oder hüpfend..., die Funktionäre und Institutionen im DBS, DVV, in den LV´s etc. in den kommenden Wochen die aktuell positive Stimmungslage aufgreifen, sinnvolle Strukturen schaffen und aktiv am Weiterleben des SiVoBa-Leistungssports mitmachen, dann ist der Hype so schnell vorbei, wie er gekommen ist!"

Anders als bei den Paralympics können Nicht-Behinderte in Deutschland Sitzvolleyball spielen. Was würden Sie Neueinsteigern auf dem Weg geben, welchen Tipp haben Sie?
Sonnenbichler: "Schritt 1: Ganz schnell hinsetzen, andere Spieler auch dazu motivieren und dann das Spielen anfangen! Schritt 2: Wenn der erste "Mords-Muskelkater" vorbei ist, die DVV-Web-Site volleyballteam-london.de bzw. Facebook "Sittingvolleyball Team Deutschland" anklicken, Kontaktadressen und Infos besorgen - oder: einfach mir schreiben! Schritt 3: Teams und Trainingsgruppen bilden, Spieler mit Handicaps motivieren und dann miteinander Spaß haben! Schritt 4: An Turnieren und Wettkämpfen teilnehmen und Schritt 5: Vielleicht hat einer der Volleyballer für sich den Traum von OLYMPIA im Kopf - dann hat er hier eine große Chance!“

Quelle: DVV