Aktuelles aus dem Behindertensport

Viel mehr als ein fröhliches Schwimmfest

Beim Bundesfinale JTFP in Berlin gibt es viele kleine und große Talente – und einen Schwimmstar zum Anfassen

Es ist kurz vor zehn Uhr am Vormittag, aber für manches verschlafene Gesicht kommen die Klänge aus den Lautsprechern anscheinend genau richtig: „Guten Morgen, Sonnenschein!“, trällert Nana Mouskouri fröhlich. Auf geht´s also für die vier mal 25 Meter-Bruststaffel weiblich in der Wettkampfklasse vier.

Wer sich eben noch mit Kopfhörern abgeschirmt oder der besten Schulfreundin zugehört hat, muss jetzt gleich ins 28 Grad warme und drei Meter tiefe Wasser der Schwimm- und Sprunghalle im Europa Sportpark Berlin. Die beeindruckende Anlage an der Landsberger Allee im Stadtteil Prenzlauer Berg hat einiges zu bieten: Drei Becken, aufragende Zuschauertribünen, ausladende Umläufe. Hoch an der Wand hängen die Flaggen der Bundesländer. Willkommen, liebe Schüler aus Schwerin und Neuwied, aus Neckargemünd und Dessau, in der großen, weiten Welt des Schwimmens!

Ein professioneller Hallensprecher mit sonorer Stimme, wummernde Beats zum Warmmachen, Kampfrichter in weiß, wohin man auch schaut, vollautomatische Zeitnahme, das Gewimmel und Gewusel vieler Starter – wer von zuhause das piefige Hallenbad gewohnt ist, erstarrt in Ehrfurcht. Dass es so auch einigen der etwa 80 jungen Schwimmerinnen und Schwimmen aus zwölf Bundesländern zwischen zehn und 18 Jahren geht, die an diesem Mittwochmorgen ihren Bundessieger im Schulsportwettbewerb Jugend trainiert für Paralympics (JTFP) küren, weiß Lars Pickardt nur zu gut: „Viele sind von der Atmosphäre in Berlin und in der Halle erst einmal überwältigt. Für uns geht es hier um Leistungsentwicklung. Deswegen gilt: Je früher sie sich an ein professionelles Wettkampfumfeld gewöhnen, desto besser.“ Pickardt ist als Vorsitzender der Deutschen Behindertensportjugend (DBSJ) in vielerlei Hinsicht der richtige Mann am richtigen Ort – neben organisatorischen und repräsentativen Aufgaben hält er, zusammen mit den Verantwortlichen der Abteilung Schwimmen, wie der Bundestrainerin Ute Schinkitz, Ausschau nach Talenten.

Natürlich ist das diesjährige Bundesfinale von JTFP auch wieder eine großartige Chance, Sportler aus anderen Bundesländern kennenzulernen. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Schwimmverband rücken Behinderte und nichtbehinderte Schwimmer durch inklusive und gemischte Länderstaffeln nach dem Motto „get together“ näher zusammen. Barrieren in den Köpfen sollen verschwinden. Alles wichtig, richtig und gewollt. Pickardt hat indes auch etwas anderes im Blick: „Wir brauchen Entwicklung, wir wollen Leistung. Wir können es uns im internationalen paralympischen Wettbewerb nicht leisten, Talente zu übersehen.“

Nach den Pilotveranstaltungen 2010 und 2011 fand die Talentschau JTFP in diesen Tagen zum vierten Mal seit 2012 zusammen mit dem bewährten Klassiker „Jugend trainiert für Olympia“ unter dem Dach der Deutschen Schulsportstiftung und der Organisationsleitung des Berliner Senats statt und beide Wettbewerbe wachsen immer mehr zusammen. Zum Gelingen der insgesamt drei über das Jahr verteilte Bundesfinalveranstaltungen trägt, neben der durch das Bundesinnenministerium und dem Land Berlin, das Engagement des Hauptsponsors Deutsche Bahn bei. Eine Leistung der DB AG, Hauptsponsor der beiden weltweit größten Schulsportwettbewerbe, ist z.B. die Realisierung des bekannten Schlachtrufes „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“- denn alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Finalwettkämpfe fahren mit der Bahn in die Hauptstadt. „Ohne diese Partner könnten wir ein Ereignis dieser Größe gar nicht stemmen“, sagt DBSJ-Chef Pickardt.

In einem Pulk aus Athleten in roten und grünen T-Shirts wartet Emely Telle. Fünf Meter vom Beckenrand entfernt steht die 18 Jahre alte Schülerin und wärmt sich für ihr Rennen über 50 Meter Rücken auf. Neben ihr knien, sitzen, hocken die anderen Talente der Carl-von-Linné-Förderschule in Berlin-Lichtenberg. „The power ofyou“, steht auf ihren Shirts. Wer eine Behinderung hat und wer nicht, das ist auf den ersten Blick kaum auszumachen.

Jede Veranstaltung braucht ihren Star, und bei diesem JTFP-Finale ist es Emely Telle. Die Weltmeisterschaftszweite von Glasgow über 50 Meter Brust ist deutsche Vorzeigeathletin; sie traut sich eine Medaille bei den Paralympischen Spielen  2016 zu. Mit ihrer Freundin und schärfsten Konkurrentin Karolina Pelenditrou aus Zypern könnte sie dann um Gold kämpfen.

Lehrerin Birgit Pflug, Trainer Maik Zeh und Matthias Ulm, Cheftrainer des Berliner Schwimmteams, sind entsprechend stolz auf die sehbehinderte Athletin. Ihre Sehkraft  liegt bei nur zehn Prozent. Auf ihre Leistungen sind sie stolz, und auf ihre Vorbildfunktion. „So ein Wettbewerb lebt auch davon, dass man ein Vorbild zum Anfassen da hat“, sagt der erfahrene Ulm. Diese Rolle nimmt Emely Telle gern an. „Ich möchte ein Vorbild sein und zeigen, dass auch Behinderte schnell schwimmen können“, sagt sie, nachdem sie ihre unbeliebteste Disziplin, Rücken, über 50 Meter in 38,72 Sekunden als Siegerin hinter sich gebracht hat. Immer mal wieder wird sie angesprochen, mal schüchtern, mal mutig, Selfies werden gemacht, Tipps gegeben – oder es wird einfach nur „Hallo“ gesagt.

Emely Telle kam mit 15 Jahren aus der Nähe Weimars nach Berlin zum Schul- und Leistungssportzentrum (SLZB) und ins Berliner Schwimmteam. Dort hat sich eine Schwerpunktgruppe sehbehinderter Athleten gebildet; dessen Aktive zählen auch dank Matthias Ulms Arbeit zur Weltspitze. Am SLZB möchte Emely Telle in zwei Jahren ihr Abitur machen und dann Modejournalismus studieren. Sie ist sicher, dass sie die benötigte Norm für Rio 2016 schwimmen wird, mehr noch: „Ich möchte dort eine Medaille holen“, sagt sie, und benennt auch das, was sie antreibt: „Ich male mir meine Freude danach aus, die glücklichen Gesichter um ich herum.“

Ein strahlendes Lächeln würde eine Plakette gleich welcher Couleur auch auf Friedhelm Julius Beuchers Gesicht zaubern. Der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) ist auf Stippvisite in die Halle gekommen; hier begrüßt er herzlich viele alte Bekannte. Beucher sagt: „JTFP ist eine beispielhafte, leistungssportorientierte Veranstaltung. Es ist nicht nur ein fröhliches Schwimmfest. Emely Telle ist die personifizierte Leistungsbereitschaft für Jugendliche mit Behinderung. Sie schwimmt sich in die Weltspitze, weil das Umfeld persönlich und sachlich passt.“ Telle lächelt schüchtern in Anbetracht so viel präsidialer Preisung.

Sie gewinnt später in gewohnter Umgebung alle ihre Rennen; Freistil, Brust und Rücken. Wie die anderen Berliner Spitzenschwimmer Tom Meixelberger, Simon Prodanovic und Lea Stengel erreicht sie so viele Punkte, dass die Carl-von-Linné-Schule den Wettbewerb am Ende deutlich vor dem Sonderpädagogischen Förderzentrum Potsdam und dem Mecklenburgischen Förderzentrum Schwerin gewinnt – und am Abend von Bundespräsident Joachim Gauck geehrt wird. „Es adelt uns, vom Bundespräsidenten geehrt zu werden“, sagt Birgit Pflug, die seit 1997 an der Schule unterrichtet. „Es ist eine Bestätigung für uns und die Schülerinnen und Schüler.“ Als Startgemeinschaft mit dem SLZB wird die Carl-von-Linné-Schule zum Bundessieger. Startgemeinschaften sind nötig und sinnvoll, wenn eine Förderschule nicht alle geforderten Jahrgänge mit Schwimmern besetzen kann. Die Carl-von-Linné-Schule hat ihre stärksten Athleten in jüngeren Jahrgängen.

Um die Stellung des Sports und die Zusammenarbeit von Schule und Verein in (Förder)Schulen zu stärken, könnte es keine besseren Wettbewerbe als JTFP geben. Da Kinder mit Behinderungen nicht immer in Vereinen aktiv sind, ist der Schulsport umso wichtiger. Die Zusammenarbeit der Carl-von-Linné-Schule mit dem Berliner Schwimmteam begann vor sechs Jahren, damals mit einer dritten Klasse Inzwischen gehen die Schüler der Schwimmklasse drei Mal in der Woche in die eigene Schwimmhalle auf dem Schulgelände, einmal steht Athletiktraining an. Pflug, die Klassenlehrerin der Schwimmklasse, sagt: „Es ist immer wieder beeindruckend, wie sich Schüler mit Behinderung in sechs bis neun Monaten durch das Schwimmen physisch und psychisch entwickeln. Sie beweisen, was sie durch Willen erreichen können.“ Und wenn am Ende dann noch ein Sieg beim Bundesfinale JTFP steht, haben sich auch wieder alle Mühen gelohnt.