Aktuelles aus dem Behindertensport
Demenz und Sport? Jetzt erst recht!
NRW-Modellprojekt startet mit mehr als 150 Teilnehmern in Duisburg
„Sportangebote für Menschen mit Demenz zugänglich zu machen: Das ist ein großer Schritt zu einer gesellschaftlichen Normalität, in der diese Menschen nicht ausgegrenzt werden, sondern teilhaben“, sagte Markus Leßmann, Abteilungsleiter im NRW-Gesundheits- und Pflegeministerium. Er eröffnete am 29. November 2014 die Auftaktveranstaltung zum Modellprojekt "Sport für Menschen mit Demenz" in der Mercatorhalle. Mit dabei: mehr als 150 Teilnehmer aus lokalen Sportvereinen, Pflege- und Altenheimen, Demenz-Beratungsstellen, Wohlfahrtsverbänden und Pflegekassen.
Einen Tag lang ging es in Podiumsdiskussionen, persönlichen Gesprächen und Workshops um Demenz, Sport und Teilhabe. 73 Sportangebote für Menschen mit Demenz sind im Modellprojekt dabei. Sie werden bis 31. Dezember 2016 erprobt, wissenschaftlich begleitet und sollen danach weiter laufen. Hinter jedem steht ein multiprofessionelles Tandem: Dort arbeiten zum Beispiel ein Sportverein und ein stationäres Pflegeheim oder eine Tagespflege eng zusammen. Oft ist auch die örtliche Demenz-Beratungsstelle mit im Boot. Der Netzwerkgedanke wird großgeschrieben.
Das Modellprojekt hat ein breites Spektrum: Dazu gehören Sportangebote für Menschen in der Großstadt und im ländlichen Bereich, ambulante, teilstationäre und stationäre Angebote. Sie finden im Sportverein, in der Tagesklinik oder direkt im Pflegeheim statt. Es gibt Sportgruppen für Menschen in allen Stadien der Krankheit und in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft.
Vieles ist neu: Zum Beispiel Angebote in der Frühphase von Demenz zu bieten. Für ältere Migranten mit Demenz sollen Bewegungsangebote gefunden werden. Drei der insgesamt 73 lokalen Projekten stellten sich und ihre Sportangebote am Samstag stellvertretend für andere auf dem Podium vor.
Annette Sielschott ist Netzwerkkoordinatorin des Sportvereins TuS Germania Kückhoven. Dessen stationäres Sportangebot läuft seit Ende Oktober zweimal wöchentlich beim Tandem-Partner, der Pflegeeinrichtung Pro8 Kückhoven, im ländlichen Raum Erkelenz. Das Pro8-Konzept beeindruckt Annette Sielschott: „Der Weg durch das Heim hat die Form einer Acht. Er führt immer auf den sogenannten Marktplatz zurück. Hier ist der Treffpunkt für alle, hier findet auch unser Sportkurs statt. Menschen mit Demenz haben einen starken Bewegungsdrang, eine ständige innere Unruhe. Aber hier kommen sie auf ihrem Weg immer wieder bei uns vorbei und können sich in Gesang und Bewegungsspiele einklinken.“
Pro8 will Vorurteile, Barrieren und Hemmungen in der Nachbarschaft abbauen. Deshalb ist ein wichtiges Ziel des Projekts die Integration in das Dorfleben. „Wenn Nachbarn, Kindergärten, Schulen, Sport- und Schützenvereine ganz selbstverständlich im Pflegeheim ein- und ausgehen, dann ist dort etwas Großes geschafft“, sagt Lea Immeln, Leiterin des Sozialtherapeutischen Dienstes bei Pro8. Sie unterstützt das Bewegungsangebot der drei aktiven Übungsleiterinnen vor Ort als Sozialarbeiterin.
„Wir wissen nicht, wann wir die Seiten wechseln. Schon morgen kann jeder von Demenz betroffen sein. Deshalb sollten wir uns heute mit dem Thema auseinander setzen“, sagt Annette Sielschott. Sie hat einen persönlichen Traum: „Wenn irgendwann alle Barrieren weg sind, dann turnt die demenzkranke Oma mit ihrem zweijährigen Enkel in derselben Gruppe und beide haben richtig Spaß miteinander.“
Neue Bewegungsangebote in Münster nehmen besonders das Frühstadium in den Blick. „Sport mit Demenz? Ja, jetzt erst recht!“ fordert Gabriele Völker-Honscheid, Diplom-Sportlehrerin und Vorstandsvorsitzende des Vereins für Gesundheitssport & Sporttherapie Münster e.V. (VGS). „Das ist gerade zu Beginn der Krankheit ganz wichtig und wirksam. Trotzdem fehlen in dieser Phase häufig die entsprechenden Angebote.“ Deshalb bietet der VGS Menschen mit beginnender Demenz besondere Bewegungsprogramme. Sie berücksichtigen sowohl den Aspekt der Kondition (Ausdauer und Kraft) als auch Koordination (Bewegungssicherheit/Sturzprävention) und Entspannung. So bleiben diese Menschen länger fit und mobil, selbstständig und sozial eingebunden.
Gabriele Völker-Honscheid blickt ganzheitlich auf das Thema Demenz und Sport: „Wir müssen die Menschen mit Demenz von Anfang an in Bewegung halten und dann so lange wie möglich.“ Ganz wichtig sind ihr gezielte Bewegungsangebote an den Schnittstellen und Übergängen: vom selbstständigen Leben zuhause in die ambulante Pflege, über die Tagespflege bis hin zur stationären Betreuung. In Münster arbeitet der VGS deshalb in einem weiteren stationären und teilstationären Modell mit. Völker-Honscheid erklärt: „Damit gehen wir in ein Pflegeheim. Dort helfen die Pflegekräfte dabei, das Angebot durchzuführen. Es ist offen für Gäste aus der Tagespflege, aus der Nachbarschaft und dem Quartier.“
„Wir öffnen uns als Sportverein inklusiv und integrativ“, sagt Jörn Derißen, 1. Vorsitzender des Behindertensport Oberhausen e.V. Bisher gab es in der Stadt keine Sportangebote für ältere Migranten mit Demenz. Der BS Oberhausen füllt mit seinem neuen Angebot diese Lücke. Dafür hat der Verein einen „Kümmerer“ ins Team geholt, der deutsch und türkisch spricht. „Unsere Sportgruppe wird Brücken schlagen. Sport verbindet, da geht Vieles einfach über Körpersprache“, so Derißen.
Per Fahrdienst müssen die Teilnehmer abgeholt, zum Sport gebracht und nachher wieder nach Hause gefahren werden. Dies ist derzeit ein hohes Planungs- und Organisationziel – und Neuland für den Sportverein. Es sind Menschen mit beginnender Demenz, die noch selbstständig oder teilbetreut zuhause leben. Die Kommunikation in ihrer Muttersprache fällt ihnen leichter als in deutscher Sprache. Jörn Derißen sagt: „Sport hilft immer – auch bei Demenz. Mit unserem Sportangebot wollen wir ihnen helfen, so lange wie möglich selbstständig zu bleiben.“
Der Kick-off am Samstag ist ein Meilenstein im Modellprojekt. „Unsere Teilnehmer sind unsere Botschafter“, sagt Dieter Keuther, der gemeinsam mit Dr. Georg Schick die Geschäfte des Projekts beim Behinderten- und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfalen (BRSNW) führt. „Heute bekommt unser Projekt mehr als 150 Gesichter und ein lebendiges Netzwerk“, ergänzt Schick. „Gemeinsam werden wir Sportangebote nah an den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz entwickeln. Das Ziel: Wir wollen diesen Menschen Teilhabe ermöglichen. Dazu werden wir Barrieren abbauen, viele neue Erfahrungen machen und immer wieder gedanklich in fremde Pantoffeln schlüpfen.“
Quelle: BRSNW