Aktuelles vom Goalball im Deutschen Behindertensportverband
Ein Ort zum Geschichte schreiben
Deutschlands Goalballer erwartet schon zu Beginn ein Highlight: Erstmals wird ein Goalball-Spiel live im deutschen Fernsehen gezeigt – Das Team will die starke Entwicklung in Tokio mit Gold krönen
„Kai… zen!“ hallte es durch die Makuhari-Messe-Halle. Deutschlands Goalball Herren betraten erstmals die Wettkampfstätte im Westen Tokios und zeigten sich dabei sehr beeindruckt von dem Ort, an dem sie bei den Paralympics Geschichte schreiben wollen. „Wir werden in dieser Halle ein saugeiles Turnier spielen“, rief Co-Trainer Stephan Weil den sechs Spielern nach dem ersten Training lautstark zu.
„Kaizen“ ist eine japanische Philosophie, die das stetige Streben nach Verbesserung vermittelt. Es ist ein Motto, das perfekt zu Deutschlands Goalballern und deren Entwicklung passt. Denn dieses Bestreben verkörpert das deutsche Team bereits seit einigen Jahren. EM-Silber 2017, WM-Silber 2018, Gold bei der Heim-EM 2019 – und nun soll die große Belohnung folgen: Paralympics-Gold in Tokio. Dafür hat die Mannschaft hart gearbeitet und viel investiert. Diesen Eindruck hinterlässt die Auswahl von Cheftrainer Johannes Günther und Co-Trainer Weil auch beim Training in der Makuhari-Messe-Halle: akribisch, konzentriert und fokussiert, gleichzeitig auch entspannt, mit bester Stimmung. Und erst recht mit dem Willen, Großes zu erreichen.
Es ist zu spüren: Diese Jungs sind in den vergangenen Jahren gereift. Während 2016 alle sechs Spieler Paralympics-Premiere feierten und Deutschland das jüngste Team des Turniers stellte, blieb der Stamm der Mannschaft zusammen, sammelte Erfahrungen – und erlangte vor allem die Gewissheit, dass man nicht nur ins Finale einziehen, sondern auch Titel gewinnen kann. Diesmal sind mit Fabian Diehm und Felix Rogge zwei Debütanten dabei. Und Letzterer hat bereits viele Jahre als Goalballer auf dem Buckel, erlebte 2004 die Spiele in Athen im Jugendlager, war allerdings noch nie als Athlet bei den Paralympics. „Wir haben richtig Bock und wollen abliefern“, bringt es Rogge auf den Punkt.
Diese Energie wollen die deutschen Goalballer auch mit ins Turnier nehmen. Waren sie 2016 die Außenseiter, zählen sie diesmal zum Kreis der heißen Medaillenkandidaten. „Wir wollen unsere beste Leistung zeigen und am Ende auf dem Podium stehen“, stellt Reno Tiede klar und ergänzt: „Am liebsten in der Mitte und dabei unsere Hymne hören. Das ist unser großer Traum.“ Doch der Traum ist längst zum verkündeten Ziel geworden: „Wenn wir unser Potenzial ausschöpfen, wird es für die Gegner schwierig sein, gegen Deutschland zu gewinnen“, sagt der Rostocker Tiede, gewissermaßen der Papa der Mannschaft, der seine Mitspieler nicht nur aufgrund seiner Emotionalität mitreißen kann.
Die Mission Gold startet für die deutsche Auswahl bereits einen Tag nach der Eröffnungsfeier am 25. August gegen die Türkei. Und das wird nicht irgendein Spiel. Zum einen will das Team unbedingt mit einem Sieg in das Turnier starten, um von Beginn an ins Rollen zu kommen. Zum anderen steht eine fast schon historische Premiere an: Erstmals wird ein Spiel der weltweit beliebtesten Sportart für Menschen mit Sehbehinderung, die bereits seit 1976 zum Programm der Paralympics gehört, live im deutschen TV zu sehen sein. Die ARD überträgt das Duell mit der Türkei ab 10.30 Uhr deutscher Zeit. „Dadurch ist die Tatsache, dass wir leider nicht vor Publikum in der Halle spielen dürfen, nicht mehr so ein großer Wermutstropfen. Denn durch die Live-Übertragung können wir vor sehr vielen Zuschauern spielen, denen unser Sport zugänglich gemacht wird und die mit uns fiebern“, sagt Cheftrainer Johannes Günther. Das zweite Gruppenspiel einen Tag später ist die Neuauflage des EM-Finals von 2019 gegen die Ukraine – gezeigt wird dies im ZDF. Die weiteren Gruppengegner: Belgien (28. August) und China (30. August).
„In Deutschland herrscht eine tolle Euphorie, das bekommen wir bis nach Japan mit. Wenn am 24. August die Paralympics eröffnet werden, dann brennt nicht nur das Feuer im Stadion, sondern auch in uns. Dann gilt es das abzurufen, worauf wir uns Jahre lang vorbereitet haben“, sagt Reno Tiede. Sein Coach ergänzt: „Was wir in manchen Trainingslagern aufs Parkett gebracht haben, war ganz nah an dem dran, wie wir uns Goalball vorstellen. Gelingt uns das auch hier in Tokio, sind wir in der Lage, etwas Großes zu erleben.“
Ein Spaziergang wird dies freilich nicht. Zu den Medaillenfavoriten zählen neben Deutschland auch Titelverteidiger Litauen, das schwer ausrechenbare Team aus den USA, China als Wundertüte und Weltmeister Brasilien. „Brasilien hat seit den Paralympics 2012 nur ein Spiel verloren – und zwar das Halbfinale bei den Spielen in Rio, als sie vermutlich am Druck gescheitert sind“, berichtet Günther und fügt an: „Ich glaube, dass sie diesmal schlagbar sein können.“
Die deutsche Auswahl hat in vielen Bereichen große Entwicklungsschübe gemacht: Athletisch wie taktisch und ebenso mit Blick auf das Wurfrepertoire sowie die gesammelte Erfahrung. Eine weitere Stärke hat sich das Team beibehalten, die es schon seit Jahren auszeichnet: das Wir-Gefühl. „Wir wollen Optimismus verbreiten und die positiven Dinge in den Fokus rücken. Wir pflegen eine offene Kommunikation und haben feste Rituale – so beginnen und beenden wir jeden Tag gemeinsam als Gruppe und tragen die gleiche Kleidung. Das gehört für uns dazu“, betont Günther.
Dem Zufall wird bei den deutschen Goalballern wenig überlassen. Mit viel Akribie werden auch die letzten Prozentpunkte versucht herauszukitzeln. Zum Trainerteam gehört neben Videoanalyst Tobias Vestweber inzwischen auch Sportpsychologe Simon Borgmann, der Spielern wie Trainern wichtige Impulse gibt und dazu beitragen soll, dass das Team zum Start der Paralympics auch mental in Topform ist. „Wir wollen bestens vorbereitet in jedes Spiel gehen, ohne dabei in Hochmut zu verfallen. Schon vor einem Jahr waren wir uns als Gruppe einig, dass wir in diesem Jahr die Chance haben, ganz vorne zu landen. An diesem Ziel hat sich nichts geändert“, sagt Johannes Günther. Getreu dem Motto „Kaizen“ will das Team die starke Entwicklung mit einer Medaille krönen, am liebsten mit Gold. Es wäre erst das vierte deutsche Goalball-Edelmetall nach Silber 1976 sowie Gold in Arnheim 1980 und Atlanta 1996. Fest steht: Deutschlands Goalballer sind bereit, Geschichte zu schreiben.