Aktuelles vom Deutschen Behindertensportverband
„Para Sport ist mehr als das ‘Abspringen und Sprinten mit einer Feder‘“
Neue Weltrekorde und immer bessere Leistungen von Para Sportler*innen haben in den vergangenen Monaten für Schlagzeilen gesorgt. Bei den Zuschauer*innen führten diese Leistungen zu Faszination und Anerkennung einerseits, haben aber andererseits auch Diskussionen entfacht, vor allem über die Wirkung von Prothesen auf die sportlichen Leistungen.
Para Leichtathlet Markus Rehm übertrifft Anfang Juni seine Bestweite im Weitsprung um vier Zentimeter auf 8,66 Meter, während Sprinter Johannes Floors seinen Weltrekord über 200 Meter auf 20,69 Sekunden verbessert. Diese Steigerungen sorgten insbesondere in den sozialen Netzwerken für Diskussionen, welche die Leistungsverbesserungen vor allem auf die Hilfsmittel der Sportler*innen zurückführten. Tenor: Mit einer solchen Feder könne schließlich jeder so weit springen oder so schnell rennen.
Eine Studie ordnet die Wirkung der Prothesen beim Weitsprung ein
Dass diese Wahrnehmung jedoch nicht der Realität entspricht, zeigt sich schon bei einem Blick auf die Leistungen von Rehms Konkurrenz aus aller Welt. Der deutsche Weitspringer dominiert seine Startklasse nach Belieben und ist inzwischen seit über einem Jahrzehnt ungeschlagen bei sportlichen Großereignissen. Darüber hinaus liegt der Zweitplatzierte in der aktuellen Weltrangliste des Jahres 2022 mehr als 1,30 Meter hinter Rehm. Neben dem sportlichen Vergleich zwischen Athleten mit zumindest sehr ähnlichen Voraussetzungen gab es bereits auch eine wissenschaftliche Studie, welche Rehms Absprung und Anlauf hinsichtlich der Wirkung seiner Prothese im Vergleich zu olympischen Athleten der internationalen Leistungsspitze untersuchte. Ein eindeutiges Ergebnis ist anhand dessen zwar nicht ableitbar, dennoch lieferte die Untersuchung wichtige Erkenntnisse: Die Wissenschaftler*innen stellten fest, dass Rehm im Absprung zwar einen Vorteil hat, im Anlauf jedoch einen Nachteil. Welcher Vor- oder Nachteil überwiegt, ist jedoch nicht quantifizierbar: „Es ist nicht möglich zu sagen, dass die Prothese dem biologischen Bein im sportlichen Kontext unterlegen oder überlegen ist“, ordnet Prof. Dr. Thomas Abel, der an der Deutschen Sporthochschule Köln eine Professur für Paralympischen Sport bekleidet, die Forschungsergebnisse ein
Rehms Carbonfeder als Teil der Prothese habe wissenschaftlich bewiesen bessere Fähigkeiten, die Energie des Absprungs zu speichern und wieder abzugeben. In diesem Kontext sei die Prothese dem biologischen Sprunggelenk laut Abel überlegen. Bei der Anlaufgeschwindigkeit, die einen wesentlichen Einfluss auf die Leistung beim Weitsprung hat, stellt die Prothese hingegen einen Nachteil dar. „Was Markus Rehm und anderen Para Athlet*innen mit einer Prothese darüber hinaus fehlt, ist eine Rückkopplung aus dem Nervensystem. Dies bewirkt eine deutliche Veränderung im Bereich der Ansteuerung und Ausführung von Bewegungen“, betont Thomas Abel. Aus diesen sportwissenschaftlich-biomechanischen Untersuchungen lässt sich die Empfehlung ableiten, gemeinsame Wettkämpfe zwischen Sportler*innen mit und ohne Behinderung durchzuführen, jedoch mit einem getrennten Wertungssystem aufgrund der schwierigen Vergleichbarkeit.
Talent und gutes Training sorgen für Leistungsverbesserung
Die sportlichen Leistungen der Para Athlet*innen schmälert diese Erkenntnis jedoch nicht: „Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Sportler*innen mit einer Prothese nicht wegen ihrer Prothese gut springen oder schnell laufen, sondern weil sie für ihre Sportart extrem talentiert sind und sehr systematisch und professionell trainieren“, sagt Abel. Eine Verbesserung der Talentidentifizierung und neue Trainingsmethoden sowie auch die ermöglichte größere Fokussierung auf den Sport haben nach Einschätzungen des Wissenschaftlers zu den teils erheblichen Leistungssteigerungen im Para Sport geführt und diesen in den vergangenen Jahren immer weiter professionalisiert. Ein Beispiel, das der Wahrnehmung widerspricht, die Steigerung der Leistung im Sprint sei überwiegend der Entwicklung der Prothesen zuzuordnen: Form und Modell der Sprint-Prothese von Johannes Floors stammen aus dem Jahre 1992 – doch bislang konnte niemand so schnell damit laufen wie der deutsche 400-Meter-Paralympics-Sieger.
Inklusiver Sport zum gegenseitigen Verständnis
Für die Zuschauer*innen bleiben die aufgeführten Gründe für die Leistungssteigerungen offensichtlich oftmals unklar. Es mangelt an Informationen und Hintergründen – und Begegnungen. Abel: „Der zentrale Grund für die häufig vorherrschenden Annahmen der Zuschauer*innen lässt sich mit den fehlenden Begegnungsräumen erklären. Es fehlt das Miteinander, welches Menschen ohne Behinderung eine bessere Einschätzung ermöglichen würde, was es bedeutet, mit einer Prothese Sport zu treiben. Ohne Inklusion entsteht schnell der Eindruck, man könne sich selbst eine Feder ans Bein heften und springt dann von ganz allein.“
Für Prof. Dr. Thomas Abel ist es einerseits vor allem der Vereinssport, der das Verständnis von Menschen ohne Behinderung für den Para Sport schärfen kann: „Es werden Vereine benötigt, die eine Bereitschaft haben, alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen, Funktionalitäten und Leistungsorientierungen willkommen zu heißen. Dort entstehen Räume, die es möglich machen, zu erfahren, dass es nicht die Prothese ist, die springt“, erklärt Abel und betont: „Die Hilfsmittel sind dazu da, dass Menschen mit Behinderung den Sport überhaupt ausführen können.“ Andererseits sieht Abel besonderes Potenzial durch gemeinsame Wettkämpfe, bei denen Sportler*innen mit und ohne Behinderung zwar gemeinsam, allerdings in getrennter Wertung starten: „Dadurch wird das Thema sichtbar. Faszination und Respekt werden erlebbar und natürlich werden auch Diskussionen angeregt.“
Zudem sollte der Blick auf den Paralympischen Sport nicht zu sehr auf den Weitsprung oder den Sprint mit einer Prothese reduziert werden. Der Para Sport bietet eine große Vielfalt von faszinierenden Sportarten, die von Athlet*innen mit sehr unterschiedlichen Behinderungen und Voraussetzungen betrieben werden, so dass ein möglichst individueller Umgang stets pauschalen Lösungen vorzuziehen ist: „Vielfalt ist eine große Chance für unsere Gesellschaft. Das können wir im sportlichen Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung lernen. Und letztlich ist dabei immer die individuelle Situation der Sportler*in wertvoll und zu berücksichtigen – egal ob der Person eine Behinderung attestiert wurde oder nicht“, sagt Prof. Dr. Thomas Abel.
Von Annika Kollenbroich