Irmgard Bensusan: „Ich bin gerne ihr Frauen-Vorbild“
Im Interview mit dem Tagesspiegel sprechen Paralympics-Medaillengewinnerin Irmgard Bensusan und WM-Debütantin Jule Roß über den Anfang und das Ende einer Karriere, die Bedeutung des Sports und darüber, wie sie beide voneinander profitieren. Die beiden Sprinterinnen sind beide für den TSV Bayer 04 Leverkusen aktiv.
Frau Roß, Sie sind gerade einmal 16 Jahre alt und wurden überraschend für die Para-WM in der Leichtathletik nominiert. Jetzt sitzen Sie gerade neben der mehrfachen Paralympics-Medaillengewinnerin Irmgard Bensusan in Paris. Was geht Ihnen da durch den Kopf?
ROß: Hier mit dabei zu sein, ist einfach nur eine riesengroße Ehre. Wenn man in dieses Stadion kommt und die vollen Ränge sieht und all die Menschen, die einen anfeuern, dann ist das einfach eine richtig krasse Erfahrung. Aber ich bin auch echt aufgeregt vor den Wettkämpfen.
BENSUSAN: Eine Woche, bevor wir nach Paris gekommen sind, konnte Jule gar nicht mehr schlafen.
ROß: Hat Kira (Trainerin Kira Biesenbach, Anm.d.R.) dir das etwa auch erzählt?
BENSUSAN: Jaaa (lacht).
Und wie ist das für Sie, Frau Bensusan, hier zu sitzen und Jule Roß zu erleben? Fühlen Sie sich da an Ihre eigenen Anfänge im Sport erinnert?
BENSUSAN: Ja, mich erinnert das schon sehr an meinen ersten nationalen Wettkampf damals in Südafrika. Ich habe letztes Jahr ein wenig überlegt, ob ich noch weitermachen möchte mit dem Leistungssport, und dann habe ich mich auch wegen Sportlerinnen wie Jule entschieden, meine Karriere fortzusetzen. Ich habe wirklich Bock drauf, meine Kenntnisse und Erfahrungen aus den letzten Jahren an den Nachwuchs weiterzugeben – dass sie nicht die gleichen Fehler wie ich damals begehen.
An was denken Sie da?
BENSUSAN: Bei meinen ersten nationalen Meisterschaften hatte ich zum Beispiel das Gefühl, dass ich die Nominierung gar nicht verdient hätte. Und dann hat mir jemand gesagt, der mich sehr inspiriert hat: Du hast es verdient, du sollst hier sein, du musst keinem etwas beweisen. Und genau diese Erfahrung möchte ich jetzt mit dem Nachwuchs teilen.
ROß: (schaut Bensusan an und nickt)
BENSUSAN: Dass sie keine Angst haben brauchen, dass alles ein Lernprozess ist – und dass sie es verdient haben, dabei zu sein – denn sonst wären sie ja einfach auch nicht hier!
Wie kann man sich Ihre Woche vor Paris vorstellen? Ausreichend Schlaf?
BENSUSAN: Ich habe sehr gut geschlafen (lacht). Für mich war dieses Jahr aber auch vergleichsweise ruhig. Ich habe den Fokus in letzter Zeit auf meinen Job gelegt, auf die Zeit nach meiner sportlichen Karriere. Mein Ziel bei dieser WM ist es daher nur, einen Slot zu holen für die Paralympics nächstes Jahr und vielleicht eine Bronzemedaille zu gewinnen. Ich bin sehr entspannt angereist und will die Zeit hier genießen. Auch zusammen mit dem Nachwuchs.
In der Nationalmannschaft der Para-Leichtathletik stehen Sie beide sinnbildlich für den Umbruch, der gerade vollzogen wird. Fünf WM-Teilnehmerinnen sind 18 Jahre alt oder jünger.
BENSUSAN: Ich habe schon seit Ewigkeiten zu Jörg Frischmann (Geschäftsführer Para-Sport bei Bayer Leverkusen, Anm.d.R.) gesagt: Wir brauchen junge Mädels! Und ich habe nun wirklich lange auf sie gewartet! Und nun haben wir wirklich guten Nachwuchs bekommen, das ist ein sehr schönes Zeichen. Es geht in die richtige Richtung, dass junge Frauen zum Sport kommen und auch Bock darauf haben. Ich freue mich total, und deswegen mache ich auch weiter, ich bin gerne ihr Frauen-Vorbild, das ist doch super für sie.
Irmgard Bensusan wird innerhalb der Mannschaft „Tante Irmie“ genannt. Hat sich das für Sie gleich erschlossen, Frau Roß?
ROß: Sie ist halt wirklich wie eine große Tante, die einem immer zur Seite steht und Ratschläge gibt. Man kann gut zu ihr aufschauen, weil sie das alles schon erlebt hat. Sie steht einem mental immer zur Seite und man kann wirklich auf sie zählen.
BENSUSAN: Aber ihr bekommt ab und zu auch mal einen Anschiss von mir!
Frau Roß, Sie sind schon seit einigen Jahren sportlich aktiv und vor einem knappen Jahr nun zu Bayer Leverkusen gewechselt. Wussten Sie zuvor nichts von diesen Angeboten und beispielsweise den Paralympics?
ROß: Also ich wusste, dass es Paralympics gibt, aber ich habe die eigentlich nie so wirklich verfolgt. Ich habe mit olympischer Leichtathletik angefangen, dann vier Jahre Tennis gespielt. Über Social Media auf Insta wurde mir dann mal was von Leverkusen vorgeschlagen und dann habe ich das ein wenig verfolgt und irgendwann gedacht, so, das möchte ich jetzt auch mal selbst ausprobieren.
BENSUSAN: Wir müssen die Leute da draußen echt noch viel mehr über solche Angebote informieren. Das ist wirklich ein großer Wunsch von mir.
ROß: Seitdem ich jetzt in diesem ganzen Para-Sport dabei bin, habe ich sehr viel aus den letzten Jahren nachgelesen und weiß, was da so bei den Paralympics abging. Das hat mich dann schon sehr interessiert. Dass ich auch weiß, wie die anderen sich so entwickelt haben und was sie so erreicht haben.
Bayer Leverkusen gilt in der Leichtathletik als der Standort für die Entwicklung zukünftiger Paralympics-Teilnehmer. Wie wichtig fühlt sich dieser Schritt an?
ROß: Es ist die Para-Abteilung in Deutschland! Und dann wohne ich auch noch so nah dran an Leverkusen. Man wird da so krass gefördert – woanders gibt es überhaupt nicht die Möglichkeiten, so viel und so oft dort zu sein und diese Unterstützung zu bekommen.
BENSUSAN: Mir hat Bayer Leverkusen damals bei der Klassifizierung geholfen. Und der Verein ist seitdem zu einer zweiten Heimat für mich geworden. Jeden Schritt, den sie mit mir gegangen sind – ich habe ihnen so viel zu verdanken, das kann ich in meinem Leben gar nicht mehr zurückgeben. Ich könnte Jörg Frischmann morgens um drei Uhr anrufen und sagen, ich habe ein Problem. Er würde sofort in sein Auto steigen und mir helfen.
Hätten Sie sich ein Leben ohne Sport jemals vorstellen können?
BENSUSAN: Sport bedeutet mir alles! Mein Leben! (Stockt kurz) Und ich stehe ja jetzt am Ende dieses Lebens, am Ende meiner Karriere. Der Sport hat mir so viel gegeben, mir so viel geholfen. Wenn ich traurig war, dann … Wissen Sie, ich war nie jemand, der seine Emotionen gut kommunizieren konnte. Und wenn ich traurig war, dann bin ich zum Sport gegangen und habe mich ausgelaufen. Wenn ich happy war, war ich auf der Bahn und habe mich ausgelaufen. Wenn ich abgefucked war, bin ich auf die Bahn und habe mich ausgelaufen. Dort konnte ich mich ausdrücken, ohne Worte zu benutzen.
ROß: Bei mir ist das wirklich genau so. Zum stressigen Schulalltag ist der Sport mein Ausgleich. Ich kann runterfahren, bin frei von meinen Gedanken und mache das, was ich liebe. Und ich habe lange nicht mehr so viele neue Leute kennengelernt wie letztes Jahr.
BENSUSAN: Vor allem Leute, die auch eine Behinderung haben.
ROß: Ja, total! Davor hatte ich echt nicht so viel Kontakt mit Behinderten. Ich war früher in einer Gruppe, die hat sich einmal im Jahr getroffen. Aber da waren nie Personen dabei, die zum Beispiel die gleiche Behinderung hatten, im selben Alter waren oder das gleiche Geschlecht hatten. Und hier sind jetzt drei andere, die das gleiche haben wie ich! Wir können einfach unsere ganzen Erfahrungen untereinander austauschen. Das ist Gold wert!
BENSUSAN: Und ihr seid auch voll süß! Zum Beispiel Kim (Leichtathletin Kim Vaske, Anm.d.R.) und Du, ihr habt diesen Handshake mit euren Armen, so ding ding ding (lacht).
ROß: Ja, das auch (lacht).
Ist ein solch lockerer Umgang mit der eigenen Behinderung eigentlich eher normal? Sie, Frau Bensusan, haben Ihrem Bein ja den Namen „Schluffi“ gegeben.
BENSUSAN: Ich glaube, das ist von Person zu Person verschieden. Aber ich kenne jemand anderes mit einer kleinen Hand, und sie hat der Hand auch einen Namen gegeben. Sie ist eine Lehrerin – und bei den Kindern kommt das mit dem Namen voll gut an. Wenn man so mit seiner Behinderung umgeht, kann das den anderen Menschen auch helfen. Wenn ich zum Beispiel „Schluffi“ sage, dann lachen alle und sind viel entspannter. Aber es gibt natürlich auch Menschen mit einer Behinderung, die das nicht so gerne hätten, dass andere darüber lachen.
ROß: Mein Arm heißt auf jeden Fall „Ärrmchen“! (Lacht) Alle nennen ihn so! Der war war ja schon als Baby so klein – ein Ärmchen halt.
Sind Sie denn auch lockerer geworden mit Ihrer Behinderung, seitdem Sie sich im Para-Umfeld bewegen?
ROß: Auf jeden Fall! Ich bin viel selbstbewusster geworden, seitdem ich die anderen Athleten gesehen habe, wie offen sie mit ihrer Behinderung umgehen.
Frau Roß, nächstes Jahr machen Sie Abitur. Welche Rolle soll der Sport in Ihrer Zukunft spielen?
ROß: Ich mache das ja alles gerade mal ein Jahr. Mein Ziel war die WM – und dann die Paralympics. Ich beschäftige mich natürlich gerade sehr mit der Zukunft – aber ich weiß noch nicht ganz, was ich machen soll. Ein paar Studiengänge kommen für mich wohl nicht infrage, weil ich weiß, dass ich neben dem Sport nicht so viel Freizeit haben werde. Aber zumindest habe ich den Bonus, dass ich nah an Leverkusen wohne.
Frau Bensusan, Sie sind Bundeswehrsportlerin und arbeiten nebenbei als Wirtschaftsprüferin. Können Sie einen solchen Weg empfehlen?
BENSUSAN: Jede Person ist da anders. Ich bin ein Mensch, der sich immer über die Zukunft seine Gedanken gemacht hat – was kommt, wenn ich mit dem Sport mal aufhöre? Und deswegen arbeite ich mittlerweile 30 Stunden in der Woche als Wirtschaftsprüferin, in einem Job, der mir sehr viel Spaß macht und in den ich dann überwechseln werde. Wenn man sich über solche Dinge keine Gedanken macht, dann kann man nach dem Karriereende in ein ziemliches Loch fallen, denke ich.
Wie sehr werden Sie beide in Ihrem Weg von der Familie unterstützt?
ROß: Schon sehr! Meine Familie war in den ersten Tagen auch hier in Paris. Ich habe sie im Stadion gesehen, sie haben extra so ein Jule-Poster gebastelt (lacht).
BENSUSAN: Für meine Familie ist es von Südafrika aus eine etwas weitere Strecke – aber sie plant für nächstes Jahr auf jeden Fall bei den Paralympics dabei zu sein. Ich verzeihe Ihnen also, dass sie gerade nicht hier sind.
Es heißt oft im Sport, die eigene Mannschaft sei „wie eine Familie“. Eine Tante gibt es ja schon … welches Familienmitglied sind Sie, Frau Roß?
ROß: Küken! Ich bin die zweitjüngste hier und noch relativ neu.
Frau Bensusan, Sie treten in der Öffentlichkeit für die Stärkung der Frauen ein, für Geschlechtergerechtigkeit. Wie kommt Ihnen die junge Generation in diesen Fragen vor?
BENSUSAN: Wir haben noch einen langen Weg vor uns, denn der Kampf ist noch nicht zu Ende! Ich sage der jungen Generation immer und immer wieder, dass es okay ist, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen – und für sich selbst einzustehen. Ich merke manchmal, dass es bei der jungen Generation ein bisschen an einem gesunden Egoismus fehlt, an Selbstbewusstsein.
Haben Sie da ein Beispiel?
BENSUSAN: (Überlegt) Neulich beim Training holte sich eine von den Mädels einen Startblock und fragte dann die Älteren, ob sie den haben wollten. Da dachte ich nur: Wenn die anderen auch einen Block wollen, dann müssen sie ihn sich halt holen! Es sind Kleinigkeiten, Momente, in denen sie „sorry“ sagen. Aber sie sollten nicht „sorry“ sagen! Sie sind so gleichberechtigt wie alle anderen auch und sollten sich durchsetzen. Oder was sagst du dazu, Jule?
ROß: Du hast sowas von recht! Und ich finde, das ist ein sehr gutes Schlusswort!
Ein Interview von Benjamin Apitius