Alhassane Baldé: In Rekordlaune zur EM
In kaum einer paralympischen Startklasse ist die Konkurrenz so groß wie in der von Alhassane Baldé: Der beste deutsche Rennrollstuhlfahrer sieht sich trotz unterlegenem Material seit Jahren inmitten von Vollprofis, die Entscheidungen fallen nicht selten erst auf der Zielgerade. Vor der Heim-Europameisterschaft vom 20. bis 26. August ist seine Form besser denn je – selbst ein hartnäckiger Infekt konnte ihn nicht stoppen.
Seit seinem sechsten Lebensjahr, also seit 26 Jahren, fährt Alhassane Baldé Rennrollstuhl. 2004 war er erstmals bei Paralympics dabei, er gewann Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften – aber sein leiblicher Vater hat ihm dabei noch nie live zugesehen. Kommende Woche wird es soweit sein. „Er fährt mit meinen Adoptiveltern nach Berlin. Er kommt aus Guinea und ich habe ihn bestimmt 15 Jahre nicht mehr persönlich gesehen. Ich freue mich sehr auf die Unterstützung bei der EM. Das wird etwas Besonderes“, sagt der 32-Jährige.
1985 wurde Baldé als Zwillingskind in Conakry geboren. Aufgrund eines Arztfehlers ist er von Geburt an querschnittgelähmt. Bereits mit neun Monaten kam er erstmals zu Untersuchungen nach Deutschland – und weil ihm die Ärzte in Guinea geringe Überlebenschancen attestierten, adoptierte ihn knapp drei Jahre später sein Onkel, der in Düsseldorf lebte. Dort faszinierte ihn mit fünf Jahren auf der Messe Rehacare ein Mini-Rennrollstuhl, Baldé wollte unbedingt damit fahren. Errol Marklein, selbst ein erfolgreicher Paralympionike, schenkte ihm das Ausstellungsstück zum sechsten Geburtstag und wurde sein erster Trainer – der Start einer langen paralympischen Karriere, die eine Medaille 2020 in Tokio krönen würde.
Die fehlt Baldé in der Sammlung nämlich noch, immerhin war das vergangene Jahr mit zwei WM-Bronzemedaillen über 1500 und 5000 Meter in London eines seiner erfolgreichsten. Die letzte und bis dato einzige WM-Medaille hatte Baldé sechs Jahre zuvor mit Silber gewonnen, dazwischen hatte er oft Pech im Rennverlauf oder die Konkurrenz war zu stark, allen voran der Schweizer Marcel Hug, den Baldé seit der Jugend kennt, mit dem er oft trainiert und den er 2004 bei der Junioren-Europameisterschaft letztmals geschlagen hatte – bis zu diesem Jahr.
Am Anfang der Saison hatte Baldé Hug über 800 Meter endlich mal wieder hinter sich gelassen. Danach knackte er den dort aufgestellten deutschen Rekord erneut, über 800 Meter verbesserte er die fast 15 Jahre alte deutsche Bestleistung um knapp zwei Sekunden. „Sein größter Erfolg“, findet Trainer Alois Gmeiner – und schaut man sich die Umstände an, wirkt das umso erstaunlicher. Denn: Seit einem Ägypten-Urlaub im November vergangenen Jahres schleppte Baldé einen Infekt mit sich, hohes Fieber und Müdigkeit waren die Folge. Bis die Ärzte ihn Anfang Juli für eine Woche ins Krankenhaus schickten und die Antibiotika-Behandlung anschlug. „Das hat mich in der Vorbereitung immer eingeschränkt. Aber jetzt ist das behoben und ohne dieses gesundheitliche Problem läuft es sehr optimal bei mir“, sagt Baldé – aus verschiedenen Gründen.
Die deutschen Rekorde machen Mut auf dem Weg zum Ziel: Aufs Podium bei der Heim-EM
Die Rekorde machen Mut. Sie sind das Ergebnis des Trainings mit Gmeiner, der die SSF Bonn zur deutschen Rennrollstuhl-Topadresse geformt hat. Seit den WM-Medaillen hat Baldé bessere Trainingsbedingungen, Gmeiner kann nun mit dem E-Bike und einem neu angeschafften, speziellen Schild vor ihm herfahren, um Windschattenrennen zu simulieren. „Er fährt da 45 km/h und ich probiere, ihm hinterherzukommen. Dabei erreiche ich meinen Top-Speed“, sagt Baldé, der seit diesem Jahr auch einen neuen Rennrollstuhl hat. Bei der WM 2017 war er noch mit deutlich unterlegenem Material gefahren – und trotzdem erfolgreich. Ein Ärgernis für ihn ist, dass ein deutsches Unternehmen Rennrollstühle aus Karbon für seine US-amerikanischen Konkurrenten entwickelt hatte. „Karbon kann ich mir nicht leisten, das ist viel zu teuer, auch wenn es fast jeder fährt“, erklärt Baldé: „Mein neuer Rennrollstuhl ist wieder ein Standardmodell aus Alu, aber er bietet auch Vorteile.“
Seit April hat er nun eine veränderte Sitzposition, die für weniger Rückenschmerzen sorgt, außerdem ist die neue Rennmaschine in den Kurven stabiler. Dazu kommt, dass Trainer Gmeiner in Berlin erstmals als Teil des Teams dabei sein wird, zuvor war Baldé meist allein unterwegs. Es ist auch ein Zeichen dafür, wie die zwei Bronzemedaillen in 2017 das deutsche Rennrollstuhlfahren wieder gepusht haben. Bei der Heim-EM möchte Baldé unbedingt wieder aufs Podium, „alles andere wäre schließlich auch Quatsch.“ Über 800 und 1500 Meter stimmt die Form, über 5000 Meter fehlt ihm durch den Infekt noch das „Stehvermögen auf der Zielgeraden“.
Um das Tempo im Rennen zu fühlen, drehte Baldé im schweizerischen Arbon mit Hug und dem Kanadier Josh Cassidy noch einige Runden im Wettkampf, die Mondobahn dort gilt als eine der schnellsten der Welt, das Ergebnis war der deutsche Rekord. Während international überall Rennrollstuhlfahrer in Gruppen trainieren, ist Baldé häufig in der Schweiz, um sich mit „Silver Bullet“ Hug zu messen und auszutauschen. „Er ist seit Jahren eine Stufe über mir, ich probiere mich immer, an ihn heranzukämpfen und komme immer näher. Vom gemeinsamen Training profitieren wir letztlich beide, weil auf dem Niveau nicht viele mitfahren können. Nur bei technischen Details herrscht Stillschweigen, da kann ich zwar bei ihm gucken, aber da sehe ich sofort, dass sein Stuhl um ein Vielfaches besser ist als meiner – aber er würde mir da auch nie etwas verraten“, sagt Baldé und lacht.
Bei der Europameisterschaft im Jahn-Sportpark ist die Konkurrenz groß, das Feld „deutlich stärker“, als es noch 2016 im italienischen Grosseto war. Neben Hug werden der neue 800-Meter-Weltrekordhalter Richard Chiassaro aus Großbritannien, der Niederländer Kenny van Weeghel, der Franzose Julien Casoli oder der junge Brite Nathan Maguire um die Medaillen mitkämpfen. Ob Alhassane Baldé den Schweizer Hug auch in einem Meisterschaftsrennen schlagen kann? „Ich habe ja jetzt gespürt, wie es sein kann. Den Wunsch habe ich natürlich – und vielleicht klappt es ja schon in Berlin.“ Die Zuschauer bei der Heim-EM könnten ihm zusätzlichen Antrieb verleihen.
Quelle: Nico Feißt
Eintrittskarten sowie weitere Infos zur Para Leichtathletik-EM in Berlin gibt es unter: www.para-euro2018.eu & www.facebook.com/ParaLeichtathletikEM