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40 Jahre Winter-Paralympics: Gold bei der Premiere
Die Paralympischen Winterspiele werden 40 Jahre alt. Annemie Schneider holte einst bei der Premiere Gold, Anja Wicker gewann 2014 in Sotschi und hat auch in Zukunft Großes vor.
Ohne Stock geht es nicht mehr. „Die neue Prothese“, sagt Annemie Schneider und schaut verächtlich hinab, „die ist furchtbar“. Ein Moment des Schweigens verstreicht. Früher, da ging es noch ohne Stock und ohne Humpeln. Da merkte man Schneider im zivilen Leben kaum an, dass sie mit 17 Jahren bei einem Zugunglück ihr linkes Bein verloren hatte. Auf der Piste dagegen ist das immer offensichtlich gewesen. Weil sich die Oberschenkelamputierte auf einem Ski den Berg hinunterstürzte. Je steiler und eisiger, desto erfolgreicher. Fünf Rennen gewann sie allein bei Paralympischen Spielen. Der erste Goldlauf jährt sich in diesen Tagen zum 40. Mal.
In Örnsköldsvik an Mittelschwedens Küste ging im Februar 1976 Schneiders Stern auf. Die ersten Sommerspiele der Gelähmten hatten 16 Jahre zuvor in Rom stattgefunden. Die alpinen Skifahrer, Langläufer und Biathleten mit Behinderung hatten sich dagegen gedulden müssen, bis sie in die Sphären des global bedeutendsten Sportereignisses vorstoßen durften. „Unsere ersten Weltmeisterschaften 1974 waren schon sehr intensiv“, erinnert sich Schneider. „Aber was in Schweden folgte, war dann richtig besonders.“
Eine alte Mappe birgt die Erinnerungen. Annemie Schneider hat sie zusammengeklaubt und geordnet. Vom Tisch ihres Wintergartens in Bischofwiesen am südöstlichen Zipfel Bayerns blickt sie direkt auf den Watzmann – und auf den in strahlender Sonne glitzernden Schnee. „Traumhaft“, nennt sie das. Doch sobald sie die verblichenen Fotos und Zeitungsartikel zur Hand nimmt, ist sie nicht mehr dort, sondern fort, zurück in der Vergangenheit, zurück in Örnsköldsvik. Dort, wo so vieles begann.
Für Annemie Schneider waren es grandiose Spiele: Gold im Slalom, Gold im Riesenslalom, Gold in der Kombination, stets mit fast schon vernichtendem Vorsprung vor der Konkurrenz. Schwedens Presse kürte die Deutsche zur „überlegensten Gewinnerin der Wettkämpfe“, König Carl Gustav überreichte die Medaillen, und auch in Stuttgart war der Jubel groß. Ihr Heimatverein hatte der 32-Jährigen erklärt, lieber auf den Breiten- als den Spitzensport bauen zu wollen. Also schloss sie sich dem Behindertensportverein Stuttgart an. Die Kontakte waren über eine ihrer sportlichen Nebentätigkeiten zustande gekommen: Die Skirennläuferin mischte auch bei deutschen Rallyemeisterschaften eifrig mit.
Eine, die nachvollziehen kann, vor Energie zu strotzen, diese Energie ausleben zu wollen, sich dabei auch nicht von einem sogenannten Handicap ausbremsen zu lassen, ist Anja Wicker, 24 Jahre alt, aus Stuttgart-Stammheim. Kaudales Regressionssyndrom, so heißt der Fachbegriff für die Fehlbildung der unteren Wirbelsäule, wegen der Wicker schon immer im Rollstuhl saß – oder in einem Skischlitten. 2014 in Sotschi, bei den jüngsten Paralympischen Spielen, holte sie Gold im Biathlon über zehn Kilometer, für viele völlig überraschend, auch für sie selbst. „Ich kriege noch immer eine Gänsehaut, wenn ich die Aufnahmen sehe“, sagt sie.
Bedrohlich graue Wolken stehen an einem Mittag im Februar 2016 am Himmel, als sich Wicker vom Beifahrerauf den Fahrersitz des Autos stemmt, an dessen Steuer kurz zuvor noch ihr Vater saß. Der ist ausgestiegen, um die Spezialroller aus dem Kofferraum zu manövrieren. Zum Heimtraining braucht seine Tochter weder Berg noch Schnee. Ihre Heimstrecke startet an einem einsamen Bauernhof bei Möglingen. Der Bauer hat ihr erlaubt, eines seiner Silos zum Schießstand umzufunktionieren. Vor allem jedoch dreht Wicker auf Asphaltstraßen zwischen Feldern ihre Runden, auf denen nur das Rauschen der nahen Autobahn die Stille am Rande der Stadt unterbricht. Nicht gerade abwechslungsreich, oder? „Ja“, bestätigt Papa Volker und blickt seiner davonfahrenden Tochter nach. „Aber Anja sagt immer: An dem Tag, an dem sie das Training langweilt, hört sie auf.“
So weit ist es längst nicht. Kommende Woche reist die Athletin des MTV Stuttgart zum HeimWeltcup nach Finsterau in den Bayerischen Wald. Und am Horizont leuchten sie schon, die nächsten Paralympischen Spiele 2018 in Pyeongchang. „Eigentlich ist das irre“, sagt sie über die überbordende Anziehungskraft dieses Ereignisses. „Du fieberst ihm entgegen. Und wenn du dein Ziel verfehlst, fühlst du dich, als hättest du vier Jahre umsonst geschuftet.“ 2015 holte Wicker den Gesamtweltcup im Biathlon, war die Konstanteste einer ganzen Saison. Das öffentliche Interesse ging im Vergleich zu ihrem Sotschi-Gold gegen Null. „Aber da schwang eben der Mythos Olympia mit“, sagt sie.
Den Mythos Olympia hat Annemie Schneider schon vielfrüher erlebt. Bis 1994 war sie dabei. Da holte die heute 51-Jährige in Lillehammer noch einmal Bronze im Riesenslalom. „Ich war die Oma der Nation“, sagt sie heute. Fahren konnte sie nur, weil sie an ihr Umfeld erfolgreich einen Bettelbrief versandt hatte. Auch ihn hat Schneider aufgehoben, sie zieht ihn lächelnd aus der Mappe. Die Erinnerung ist süß und bitter. Weil sie schön ist, aber eben vorüber. Unwiederbringlich. Man spürt Freude und Wehmut, wenn sie sich am Tisch im Geiste wieder aus dem Starthäuschen katapultiert, den Oberkörper mitschwingend. Oder wenn sie in ihren Skikeller hinuntersteigt und im schummrigen Licht alte Krückenski hervorkramt. „Ich bin glücklich, dass ich so viel gereist bin und so viel gesehen habe“, sagt Annemie Schneider.
Die Rolle der Vorkämpferin für die Belange von Behindertensportlern freilich war nie die ihre. Das übernahmen andere, eine Vereinskollegin vom BSV Stuttgart etwa. Reinhild Möller, die zwischen 1984 und 1998 phänomenale 19-mal Paralympics-Gold gewann, richtete nach Lillehammer einen Appell an die Medien: Sie mögen doch bitte nicht mehr wie bis dato üblich in Kultur, sondern in Sportsendungen berichten. Heute trommelt die amtierende Weltbehindertensportlerin Anna Schaffelhuber für mehr Anerkennung –und nutzt ihre Bekanntheit auch, um auf Versäumnisse in Sachen Barrierefreiheit hinzuweisen. „Im internationalen Vergleich ist Deutschland da unteres Mittelfeld“, sagt die 23jährige Monoskifahrerin. Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, hat ebenfalls eine sehr erfolgreiche Vergangenheit als blinde Langläuferin und Biathletin.
Anja Wicker ist angetan von den Leistungen und dem Engagement der Kolleginnen. „Es ist genial, was Anna und Verena tun“, sagt sie. Nach den Spielen in Sotschi schlüpfte sie ebenfalls in eine Art regionaler Botschafterrolle für ihren Sport und für einen unverkrampfteren Umgang mit Behinderten. Inzwischen sind die Zeiten etwas ruhiger. „Ich bin ganz froh darüber. Da bleibt mehr Zeit fürs Training“, sagt sie. Es ist nicht zu übersehen: Anja Wicker hat noch etwas vor.
Quelle: Benjamin Schieler, Sonntag Aktuell