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Schnittger: Alles eine Frage des Willens

Maike Naomi Schnittger
Maike Naomi Schnittger © Oliver Kremer / DBS

Bestzeiten im Wasser, ein Blindenhund für den Alltag und große Vorfreude auf das „Heimspiel“ in Tokio 2020: Die sehbehinderte Schwimmerin Maike Naomi Schnittger kämpft im Becken gegen starke Konkurrentinnen und außerhalb mit Ampeln, Pfützen und Bordsteinkanten – Nach der Internationalen Deutschen Meisterschaft in Berlin vom 6. bis 9. Juli folgt im Herbst die WM in Mexiko als großes Highlight.

„Es war eine Achterbahn der Gefühle, eine wahnsinnige Erfahrung. Mit der Silbermedaille im letzten Rennen war es der perfekte Abschluss“, sprudelt es aus Maike Naomi Schnittger heraus. Die Paralympischen Spiele in Rio de Janeiro waren für die 23-jährige Schwimmerin spürbar ein ganz besonderes Erlebnis. Auch deshalb, weil sie sehr emotional ist. Groß waren Enttäuschung und Frust bei ihr, als sie bei den Spielen über 400 Meter Freistil das Treppchen hauchdünn als Vierte verpasste. Noch größer war freilich der Jubel, als Schnittger ihre letzte Chance auf Edelmetall über 50 Meter Freistil nutzte und es auf Platz zwei schaffte.

Silber, ihre erste Paralympics-Medaille überhaupt, nachdem es bei ihrer Premiere vier Jahre zuvor in London nicht wunschgemäß verlief. Und auch vor ihren zweiten Spielen standen die Vorzeichen nicht gut. Ein angerissenes Kreuzband und eine Folgeverletzung zwangen sie Ende 2015 zu einer längeren Pause, vor Ort in Rio kam ein Infekt hinzu, der mit Antibiotika behandelt werden musste. „Ich war ein bisschen vom Pech verfolgt, doch ich bin ein Stehaufmännchen“, sagt sie lachend. „Diese Rückschläge musste ich ausblenden, das ist mir gelungen. Letztlich hat der Wille gesiegt.“

 

„Ich bin eine ganz normale Studentin, auch wenn ich nicht immer den Durchblick habe“

Und die Schwimmerin hat einen starken Willen. Maike Naomi Schnittger ist sehbehindert. Das Augenlicht erlischt mehr und mehr. 2015 gab es wieder einen Schub, eine weitere Verschlechterung. Die Restsehkraft beträgt seitdem unter zwei Prozent. „Und es wird noch schlechter werden. Ob es allerdings zur vollständigen Erblindung führt, das weiß ich nicht – und das können auch die Ärzte nicht sagen“, erklärt die Potsdamerin. Doch Bordsteinkanten, Zäune, Pfützen – all das sind schon jetzt im Alltag Hindernisse für die 23-Jährige. „Es kommt immer mal wieder vor, dass ich mitten in eine große Pfütze trete und nachher nasse Füße habe. Oder, dass ich an einer Ampel stehe und nicht weiß, ob rot oder grün ist, wenn das akustische Signal nicht funktioniert“, berichtet Schnittger.

Helfen soll ihr dabei bald ein Blindenhund. „Das wäre eine wahnsinnige Erleichterung für mich. Die Hunde werden speziell ausgebildet und erkennen beispielsweise sogar, wenn die Ampel auf Grün springt. Er wird mein ständiger Wegbegleiter werden, darauf freue ich mich.“ Beispielsweise auf dem Weg in die Schwimmhalle oder zur Universität. Denn Maike Naomi Schnittger studiert in Potsdam Psychologie. Ein ohnehin anspruchsvolles Studium, das durch die Sehbehinderung noch erschwert wird. Doch die 23-Jährige kämpft sich durch – wie im Wasser gegen ihre Konkurrentinnen oder im Alltag. „Ich bin eine ganz normale Studentin“, betont Schnittger und fügt schmunzelnd hinzu: „Auch wenn ich nicht immer den Durchblick habe.“

 

Paralymics-Gold 2020 nahe ihrer Geburtsstadt – das ist der große Traum
Maike Naomi Schnittger
Maike Naomi Schnittger © Uli Gasper / DBS

Doch auch ohne den perfekten Durchblick meistert sie die Kombination aus Studium und Leistungssport beeindruckend. Ebenso beeindruckend das Pensum, das sie Woche für Woche abspult. Neben der Zeit an der Uni absolviert Maike Naomi Schnittger 30 Stunden Training, hinzu kommen Physiotherapie und mentale Einheiten. Und natürlich der Haushalt in der eigenen Wohnung sowie die richtige Ernährung. „Ich muss mich vernünftig ernähren, um genügend Energie zu haben. Daher koche ich häufig selbstständig und nach Ernährungsplan“, erklärt sie. Einige Tipps und Tricks, ein paar Hilfsmittel wie eine sprechende Waage und viel Gefühl helfen ihr dabei. „Ich bin keine große Köchin, aber mir schmeckt es“, sagt sie und lacht.

Eine Entlastung bei diesem straffen Programm ist die Aufnahme ins Fördermodul „Duale Karriere – Individualförderung“ und damit eine finanzielle Unterstützung durch das Bundesministerium des Innern. „Das zeigt, dass es mit dem paralympischen Sport auf professioneller Basis vorangeht“, betont Schnittger. Bei der Vorbereitung auf die nächsten Paralympics ermöglicht es eine deutlich bessere Vereinbarkeit von Studium und Leistungssport. Denn satt ist Maike Naomi Schnittger nach ihrer Silbermedaille in Rio noch lange nicht. „Als Sportler will man doch immer mehr“, sagt die Schwimmerin. Mehr würde in ihrem Fall bedeuten: Gold. Und zwar in Tokio. Das ist der große Traum.

Schließlich hat sie zu Japan eine ganz besondere Beziehung. Zur Welt gekommen ist Schnittger in Yokohama, rund 40 Kilometer entfernt von der japanischen Hauptstadt, die die Spiele 2020 ausrichten wird. Ihre Eltern unterrichteten als Lehrer an einer deutschen Schule in Tokio, sowohl Maike als auch ihre Schwester sind in Japan geboren. „Ich habe zweieinhalb Jahre dort gelebt, Ende 1996 kamen wir dann nach Deutschland. 2013 sind wir noch einmal nach Japan geflogen und haben uns all das angeschaut, was ich bisher nur von Fotos kannte“, erzählt Schnittger. 2018 soll es erneut in ihre zweite Heimat gehen – und natürlich 2020 zu den Paralympics. „Ich liebe dieses Land, die Japaner werden das toll machen. Das wird der Wahnsinn – und für mich wären es quasi Heimspiele.“

 

Neue Trainingsgruppe, neue Bestzeiten: Völlig fertig und trotzdem glücklich

In Yokohama geboren, in Lashorst, einem kleinen Dorf in Ostwestfalen aufgewachsen, und schließlich für den Leistungssport mit 19 Jahren nach Potsdam gezogen. Dort ist sie nach den Spielen in Rio in eine Trainingsgruppe am Olympiastützpunkt gewechselt, zu der auch die Olympia-Teilnehmer Yannick Lebherz und Christian Diener gehören. „Ich bin sehr glücklich darüber, für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen“, sagt Maike Naomi Schnittger, die so hart trainiert wie noch nie zuvor. „Ich bin die einzige Schwimmerin mit Handicap, jedoch ein ganz normaler Bestandteil der Gruppe und ich mache alles mit. Es ist eine riesige Motivation für mich.“ Die Umfänge und Intensitäten seien heftig, allerdings profitiere sie enorm von dem Training und den Tipps. „Ich bin am Ende der Woche völlig fertig – und trotzdem total glücklich. Natürlich muss man sich überwinden und quälen, doch man kann es schaffen. Man muss es nur wollen“, betont die 23-Jährige.

Seit November 2016 ist sie in der neuen Trainingsgruppe, bereits im Februar stellte sie persönliche Bestzeiten auf, toppte diese im April erneut – und war schneller unterwegs als bei ihrer Silbermedaille in Rio de Janeiro. Jetzt steht vom 6. bis 9. Juli in Berlin mit den Internationalen Deutschen Meisterschaften, gleichzeitig die letzte Station der neu geschaffenen World Series, der erste richtige Saisonhöhepunkt an. „Ich werde alles geben und möchte schnelle Zeiten schwimmen, doch der Fokus liegt ganz klar auf der WM in Mexiko im Herbst. Darauf ist alles ausgerichtet.“ Und dann soll natürlich eine Medaille her.

Die Schwimmerin sagt: „Mit dieser Art Training kann ich so schnell werden wie noch nie zuvor.“ Dafür brauche sie zudem ein funktionierendes Umfeld aus Familie, Freunden, Trainern und Verein – sowohl für den Sport als auch für das Leben mit Sehbehinderung. „Die Stärken der anderen sind auch meine Stärken“, sagt Maike Naomi Schnittger treffend. Und dann ist da noch ihr großer Ehrgeiz, ob im Wasser, im Alltag oder an der Uni. Alles eine Frage des Willens.