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„Die sportliche Leistung entscheidet sich auch im Kopf“
Rio de Janeiro im September 2016, Maria Lenk Aquatics Centre. Die Zuschauer toben auf den vollbesetzten Tribünen, die letzten Meter bis zum Startblock, der Puls schnellt hoch. Jetzt ist er gekommen, der entscheidende Moment, auf den man vier Jahre intensiv hingearbeitet hat. Das große Rennen, dem man seit einer gefühlten Ewigkeit entgegenfiebert, für das man sich unzählige Stunden gequält hat. Vorfreude, Anspannung, Nervosität – trotz des innerlichen Gefühlschaos gilt es jetzt, cool zu bleiben. Sich zu konzentrieren auf den Start, die Technik, die Bewegungen, die Wende. Voll fokussiert auf die eigene Leistung.
Um Extremsituationen wie diese zu meistern, hilft auch mentales Training. „Die sportliche Leistung entscheidet sich auch im Kopf“, weiß Emely Telle. Die 18-jährige Schwimmerin kennt solche Drucksituationen bereits von ihren beiden WM-Teilnahmen. Jeweils Silber holte die Thüringerin vom Berliner Schwimmteam über 100 Meter Brust. Doch die Paralympics sind noch eine ganz andere Hausnummer. Das öffentliche Interesse ist vergleichsweise riesig, die Zuschauerzahlen um ein Vielfaches höher als bei anderen Wettkämpfen. „Ich sehe die Zuschauer ja eh nicht, sondern höre sie nur“, sagt die sehbehinderte Schwimmerin und lacht.
Anfangs skeptisch, inzwischen überzeugt
Sie mag diese Atmosphäre, der Lärmpegel stachelt sie zusätzlich an. Dennoch gilt es ruhig zu bleiben. „Ich konzentriere mich auf die Technik, gehe die Bewegungen im Kopf durch“, berichtet Emely Telle. Trotz Trubel und Nervosität die innere Ruhe finden. „Das kann man trainieren“, betont die 18-Jährige. Anfangs sei sie noch skeptisch gewesen. „Ich habe aber gemerkt, dass es mir etwas bringt und eine große Unterstützung für mich sein kann. Man muss es aber auch ernst nehmen und es wollen, sonst hat es keinen Sinn.“
Nicht nur bei der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung kann das mentale Training helfen. Es ist auch förderlich für die Regeneration, für den Spannungsauf- und abbau, beim organisatorischen wie psychischen Stress rund um ein Großereignis und für die Gruppendynamik. „Wie erhole ich mich am besten? Wie ziehe ich mich wieder hoch, wenn die erste Strecke nicht wunschgemäß verlaufen ist? Wie bringe ich mich bewusst in eine entspannte Stimmung? Wie wappne ich mich gegen Störungen von außen oder gegen Aufregung? Auch ein erholsamer Schlaf ist ein großes Thema“, erklärt Dr. Anke Delow. Gemeinsam mit Birte Steven-Vitense ist sie seit 2008 für die sportpsychologische Betreuung der Nationalmannschaft Paralympisches Schwimmen zuständig. Was anfangs nur mit einem kleinen Einstieg vor den Paralympics in Peking 2008 begonnen hatte, hat sich seit Herbst 2009 zunehmend ausgeweitet und etabliert.
Im entscheidenden Moment die Leistung abrufen können
„Es ist ein spannender Prozess. Die Vertrautheit untereinander hat immer weiter zugenommen. Wir tauschen uns regelmäßig aus, nicht nur mit den Sportlern sondern auch mit den Trainern. Unsere Aufgabe ist es, mit dem hilfreichen Blick von außen neue Anregungen und Impulse zu geben“, sagt Anke Delow. So ist das Duo inzwischen bei einigen Lehrgängen dabei und nach Möglichkeit natürlich auch bei den großen sportlichen Highlights. Themen wie das Verhältnis zwischen Sportler und Trainer oder die Vereinbarkeit von Leistungssport und Beruf bzw. Schule spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. „Ich habe absolute Hochachtung vor dem enormen Pensum, das die Athleten und die Trainer bewältigen müssen. Wir wollen ihnen dabei Hilfestellungen geben, den Rücken frei halten und manchmal auch die Wogen glätten“, berichtet die Sportpsychologin.
Dass die mentale Komponente für Leistungssportler sehr wichtig ist, davon ist Delow überzeugt. „Ich sehe es als einen grundlegenden Baustein, um die anderen Faktoren wie die Technik oder das harte Training im entscheidenden Moment auch abrufen zu können“, betont die 50-jährige Berlinerin und fügt an: „Sonst kann die ganze Vorbereitung umsonst gewesen sein.“ Im Zuge der zunehmenden Professionalisierung im Sport müssten alle Leistungsreserven ausgeschöpft werden, auch im paralympischen Bereich.
Dort kann die Sportpsychologie sogar besonders hilfreich sein, etwa bei Athleten mit halbseitiger Lähmung (Hemiparese). „Bei ihnen haben wir mit der Zeit herausgefunden, dass es besser ist, vor dem Start beruhigend auf die Sportler einzuwirken statt sie richtig anzustacheln. Sie sind schneller, wenn sie ruhig und geschmeidig schwimmen, da sonst die Gefahr besteht zu versteifen“, erklärt Anke Delow. Nicht nur deswegen ist sie überzeugt: „Die Sportpsychologie ist eine sinnvolle und wichtige Unterstützung. Das verdeutlicht uns auch das positive Feedback von Trainern und Sportlern.“ Schon bei den Paralympics in Rio soll sich das wieder auszahlen, wenn im entscheidenden Moment vor allem auch mentale Stärke gefragt ist.