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Der Behindertensport hat sich enorm weiterentwickelt
Markus Rehm sitzt in der Leverkusener Leichtathletikhalle auf der Matte und dehnt sich. Der unterschenkelamputierte Weitspringer ist aufgewärmt, die Trainingseinheit kann beginnen. Seine Trainerin Steffi Nerius hat die Schaumstoffblöcke in abgemessenen Abständen aufgestellt. Rehm geht zum Startpunkt, holt tief Luft und läuft los. Immer schneller, die Bewegung immer fließender als er zwischen den Schaumstoffblöcken auftritt. Steffi Nerius, die Speerwurf-Weltmeisterin von 2009, beobachtet ihn aufmerksam. Am Ziel angekommen schaut der 27-Jährige etwas kritisch. Für einen Laien sah die Übung gut gemeistert aus – sein Blick jedoch sagt etwas anderes: Irgendetwas stimmt hier nicht. „Du musst mehr Gas geben, damit dein Rhythmus in die Abstände der Blöcke passt“, analysiert seine Trainerin, die einstige Weltklasse-Speerwerferin, mit geübtem Blick.
Seitdem Markus Rehm 2008 zum TSV Bayer 04 Leverkusen wechselte, wird er von Steffi Nerius trainiert. Sie sind ein eingespieltes Team. Nerius ist seit 2002 in Leverkusen tätig und hat dort den Behindertensport vorangetrieben. Nicht zuletzt, weil sie die erste hauptamtliche Trainerin im Behindertensport in Deutschland ist, sondern weil sie mit ihren Athleten auch zahlreiche Erfolge feiern durfte. Die „Sportlerin des Jahres“ von 2009 führte Athleten wie Andrea Hegen, Mathias Mester und eben Markus Rehm zu vier Paralympics-Medaillen – hinzu kommen Weltrekorde und zahlreiche weitere internationalen Medaillen. „Sie ist eine Weltklasse-Athletin und kann ihre außergewöhnlichen Erfahrungen als Trainerin bestens weitergeben“, schätzt Rehm ihre Fähigkeiten.
Mit ihrer Popularität hat sie dazu beigetragen, dass der Sport von Menschen mit Behinderung immer mal wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rückt; zudem war sie maßgeblich am Aufbau des Paralympischen Trainingsstützpunktes in Leverkusen beteiligt. Die Bedingungen für eine Förderung und Betreuung seien hier mit dem Sportinternat in direkter Nähe der Leichtathletikanlagen optimal – für Menschen mit und ohne Behinderung. „Der Behindertensport hat sich in den vergangenen Jahren enorm weiterentwickelt – auch die Angleichung der Prämien der Medaillengewinner bei Paralympischen und Olympischen Spielen zeigt die Fortschritte“, erklärt die Blocktrainerin Wurf und Sprung. „Dass ich als Trainerin den Behindertensport bei der Entwicklung unterstützen konnte, freut mich sehr“.
Zusammenarbeit mit Markus Rehm wird bis zu den Paralympics in Rio fortgesetzt – mindestens
Doch nach 13 erfolgreichen Jahren in der Behindertensportabteilung hat Nerius seit August 2015 die „Internatsleitung Sport“ in Leverkusen übernommen. „Mir hat die Arbeit als Trainerin sehr viel Spaß gemacht und ich habe es genossen, allerdings brauchte ich jetzt eine neue Herausforderung“. Sie habe nun in einer führenden Stellung die Möglichkeit, in einem zentralen Projekt von Bayer04 ihre Erfahrungen einzubringen. Ihr sei immer klar gewesen, dass sie nicht ewig „nur“ Trainerin sein wolle – und hat die sich bietende Chance genutzt. Im neuen Job ist es unter anderem ihre Aufgabe, das Internat mit Nachwuchsathleten zu füllen. Auch dort kann die 43-Jährige ihre Erfahrungen einfließen lassen und hofft irgendwann, das Teilzeitinternat zu einem Vollzeitinternat auszubauen.
Und auch mit ihrer neuen Stelle bleibt sie dem Behindertensport ein Stück weit erhalten. Die 50 Internatsplätze teilen sich auf in die Sportarten Fechten, Judo, Leichtathletik, Fußball, Handball (Frauen) und eben Behindertensport. Der Bereich des Behindertensports wird derzeit von vier Athleten abgedeckt. Zudem bleibt sie noch weiterhin Trainerin ihrer Top-Athleten Franziska Liebhardt (Kugelstoßen, Weitsprung) und Markus Rehm – zumindest bis zu den Paralympischen Spielen in Rio 2016. „Wenn darüber hinaus noch das Interesse meiner Tätigkeit als Trainerin besteht, ließe sich auch da bestimmt eine Regelung finden“, ist sich Nerius sicher. So wird das Team, das so gut harmoniert und den paralympischen Sport in der jüngeren Vergangenheit verstärkt in das Bewusstsein der Bevölkerung gerufen hat, noch weiterhin vorhanden sein.
Markus Rehm ist mittlerweile zur nächsten Übung übergegangen. Die Schaumstoffblöcke wurden weggeräumt, es stehen weitere Sprints an. „Viele denken ich trainiere jeden Tag Weitsprung, doch von neun Einheiten in der Woche sind es vielleicht drei“, erklärt der Weltrekordhalter seiner Startklasse. Sprint- und Krafttraining gehören ebenso zum Programm wie Weitsprung. Sonntags ist auch bei ihm Ruhetag. Er geht wieder zur Startlinie, konzentriert sich und läuft los. In einem rasenden Tempo zischt er vorbei.
„Mission Titelverteidigung“: Bei der WM in Doha soll erneut Gold her
Nach jedem Lauf zieht er seinen Silikonstrumpf aus und trocknet seinen Oberschenkel ab. „Der Silikonstrumpf verbindet die Haut mit dem Schaft der Prothese, die so fixiert wird“, erklärt Rehm die Funktion. „Da muss alles fest sitzen und es darf nichts rutschen“. Deshalb ist es vor allem beim Training und an heißen Tagen wichtig, dass der Silikonstrumpf richtig sitzt. Dieses Prozedere wird also auch in Doha (Katar) immer wieder ablaufen. Denn dort finden vom 22. bis 31. Oktober 2015 die Weltmeisterschaften der paralympischen Leichtathleten statt – weniger als elf Monate vor den Spielen in Rio.
Auch wenn die Sprinteinheiten im Training nicht zu seinen Favoriten gehören, hat Markus Rehm erst kürzlich bewiesen, dass er auch im 100 Meter-Sprint richtig schnell unterwegs ist. In der 4x100 Meter-Staffel hat er zusammen mit David Behre, Felix Streng und Johannes Floors Anfang September bei den Kamen Open einen neuen Deutschen Rekord aufgestellt. Auf einen Einzelstart über 100 Meter verzichtet der 27-Jährige bei der WM trotzdem, da der Deutsche Behindertensportverband ein Luxusproblem hat. Vier Athleten haben die Norm erfüllt, drei dürfen nur starten. Sprinttraining ist dennoch Pflichtprogramm. „Markus springt zwar lieber weit – doch da ist ein schneller Anlauf unbedingt notwendig, wenn man sich verbessern will.“ Im Weitsprung laufen die Vorbereitungen bestens. In seiner Startklasse ist er zuletzt stets in einer eigenen Liga gesprungen, nicht nur bei den Paralympics in London, bei denen er Gold mit Weltrekord holte. Die Bestmarke hat er seitdem immer wieder verbessert. Zum letzten Mal in diesem Jahr, beim Saisonauftakt mit 8,29 Metern. In Doha will er seinen WM-Titel verteidigen und hofft auf möglichst starke Konkurrenz. „Der Anreiz zu gewinnen ist viel höher, wenn gleichstarke Athleten antreten.“ Deshalb haben ihm seine beiden Starts bei den Deutschen Meisterschaften der Nichtbehinderten so gut gefallen.