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Mit 16 die Heimat verlassen: Ein Schritt Richtung Weltspitze
Die sehbehinderte Para Schwimmerin Marlene Endrolath hat bei ihrem WM-Debüt 2019 mit Platz vier überzeugt – Bei den Paralympics in Tokio will sie ins Finale kommen und sich damit für ihre Entwicklung selbst belohnen.
Bei den Weltmeisterschaften schwimmt Marlene Endrolath persönliche Bestzeit und schrammt bei ihrem Debüt als Vierte nur knapp am Treppchen vorbei. Dass die sehbehinderte Schwimmerin eine derartige Entwicklung hingelegt hat, liegt auch an einer mutigen Entscheidung: Mit 16 Jahren verließ sie ihre Heimat in Richtung Berlin, wo sie beste Bedingungen für den Leistungssport vorfindet. Für Endrolath war es ein Schritt hin zur Weltspitze.
Marlene Endrolath macht kleine Sprünge vor Freude, als sie hört, was sie soeben geschafft hat: eine neue persönliche Bestzeit über 100 Meter Schmetterling. Und das nicht einfach nur im Training, sondern im Finale der Para Schwimm-Weltmeisterschaften in London. Ihre Zeit (1:10,88 Minuten) und ihr siebter Platz bringen die Athletin im Aquatics Centre förmlich zum Strahlen. Mittags sah man sie noch mit einem Beutel voller Eiswürfel am Knie im Hotel herumlaufen, abends wurde dann nochmal „alles rausgehauen“, wie sie nach dem Rennen glücklich schildert. „Das Schmetterling-Finale, die lauten Zuschauer – ich bin richtig glücklich, dass ich das erleben durfte“, sagt die 19 Jahre alte Endrolath, wenn sie über die Weltmeisterschaften vom vergangenen September spricht. Die WM-Teilnahme sei für sie ihr „größtes sportliches Erlebnis, mein größter sportlicher Erfolg.“ Über 100 Meter Brust wurde die sehbehinderte Schwimmerin außerdem starke Vierte in der Startklasse S13.
Als Jugendliche zog die sehbehinderte Athletin von Göppingen nach Berlin – für den Leistungssport
In der zielstrebigen Athletin vom Berliner Schwimmteam schlummert noch eine Menge Potenzial. Denn: Endrolath ist „relativ spät in den Leistungssport reingekommen“, sagt Ute Schinkitz, die Bundestrainerin der deutschen Para Schwimmer. „Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie sie mit ihren schwarzen Leggings und einem kleinen Turnbeutel zu den Wettkämpfen gekommen ist“, erzählt Schinkitz über die damalige Schwimmerin vom SV 04 Göppingen. „Dass sie dann den Schritt nach Berlin gehen wollte, das habe ich richtig toll gefunden.“ Statt „drei bis fünf Mal“ müsse Endrolath laut Schinkitz nun „bis zu zehn Mal“ pro Woche trainieren. Im Alter von 16 Jahren zog die sehbehinderte Athletin vom beschaulichen Göppingen nach Berlin – alleine. Fortan lebte sie im Schul- und Leistungssportzentrum und schloss sich dem Berliner Schwimmteam um Coach Phillip Semechin an.
„Marlene hat in den vergangenen drei Jahren eine tolle Entwicklung gemacht“, sagt Semechin. Und diese Fortschritte machte Endrolath beeindruckend schnell: Nach gut einem halben Jahr Training in Berlin bot sie bei den European Para Youth Games in Genua eine Glanzvorstellung, schnappte sich fünf Mal Gold sowie eine Silbermedaille. 2018 folgte in Dublin ihre erste Teilnahme an einer Europameisterschaft, im Jahr darauf überzeugte sie bereits mit Finalteilnahmen bei der Weltmeisterschaft in England. Youth Games, EM, WM – „der klassische Weg zum Lernen“, sagt Bundestrainerin Schinkitz mit Blick auf Endrolaths bisherige Wettkampf-Historie.
Der nächste logische Schritt wären die Paralympics 2020 in Tokio gewesen. „Die Absage war eine große Enttäuschung für mich, es kam alles so schnell“, sagt die 19 Jahre alte Athletin. Die Corona-Pandemie verschont auch die Sport-Welt nicht. Die Paralympics wurden vorläufig auf 2021 verschoben – ob und wie genau diese stattfinden können, ist noch unklar. „Es ist eine merkwürdige Zeit, weil man nicht weiß, wie es weitergehen wird“, sagt Endrolath, die jedoch weiterhin optimistisch bleibt: „Ich habe versucht, die positiven Dinge darin zu sehen: Ich habe noch ein ganzes Jahr Zeit, mich weiterhin zu entwickeln und viele Sachen zu verbessern.
Coach Phillip Semechin: „Davor kann man nur den Hut ziehen, wie sie sich alleine zurechtfindet“
Dank Sondergenehmigungen der Stadt Berlin war trotz Corona Training möglich. Zudem konnte die Wahl-Berlinerin ein weiteres wichtiges Kapitel erfolgreich abschließen: Mit einem Schnitt von 1,9 absolvierte Endrolath ihr Abitur – mit Leistungskursen in Sport und Biologie. „Wegen Schule und Training hatte ich sonst nie viel Freizeit. Jetzt kann ich mich mit Freunden treffen und Berlin erkunden“, sagt die passionierte Köchin, die die gewonnene Zeit nutzt und gerne neue Rezepte ausprobiert – „am liebsten italienische“. Zeichnen ist ein weiteres Hobby der sehbehinderten Schwimmerin.
Endrolath hat ein eingeschränktes Sichtfeld, ihre Augen sind zudem sehr lichtempfindlich. 2013 traten bei ihr erstmals Symptome der Netzhautkrankheit Retinopathia pigmentosa auf, eine Netzhautdegeneration. „Klar brauche im Alltag deutlich mehr Zeit: Zum Beispiel für die Orientierung, wenn ich an Orte fahre, wo ich zuvor noch nicht war. Einkaufen oder Kochen dauert natürlich auch mal etwas länger.“ Für Endrolath sind das allerdings kleinere Probleme, die sie leicht bewältigen kann. Natürlich erhalte sie bei einigen Sachen auch Unterstützung von Freunden, jedoch sei es ihr „sehr wichtig, unabhängig von anderen Menschen zu sein.“
„Davor kann man nur den Hut ziehen, wie sie sich alleine zurechtfindet“, sagt ihr Coach Semechin. „Sie weiß genau, was es heißt zu kämpfen.“ Zudem sei Endrolath „sehr reflektiert und nicht so träumerisch wie andere in ihrem Alter“, urteilt Semechin lobend. Doch ihr eigener, innerer Drang, sich stetig und schnell zu verbessern, könne Endrolath etwas abbremsen. „Marlene ist sehr ehrgeizig – und manchmal noch ein bisschen ungeduldig. Sie will schneller Entwicklungen abschließen, sie will schneller ihre Leistung verbessern“, sagt Semechin. Es brauche aber auch Zeit und Geduld, sie müsse stellenweise etwas mehr „langfristig denken und nicht: ‚Wie gut bin ich heute‘“, meint Endrolaths Coach, der die 19 Jahre alte Athletin generell „auf dem besten Weg“ sieht.
Ehrgeizige Ziele: „Ich setze mir keine Grenzen, natürlich träume ich von einer Medaille.“
2021, wenn die Paralympics dann hoffentlich in Tokio stattfinden werden, will Endrolath nicht nur dabei sein, sondern hat auch ein großes Ziel: „Ich will dort ins Finale.“ Ambitioniert, aber durchaus realistisch – sagt Bundestrainerin Schinkitz: „Wer im WM-Finale war, der will natürlich auch bei den Paralympics ins Finale kommen.“ Eines Tages darf es für die Berliner Nachwuchssportlerin des Jahres 2017 gerne mehr werden als „nur“ eine Finalteilnahme: „Ich setze mir keine Grenzen, natürlich träume ich von einer Medaille“, sagt Endrolath, die dem Paralympicskader des Deutschen Behindertensportverbandes angehört. Wenn ihre Entwicklung in den nächsten Jahren so weitergehe, sei dies laut ihrem Trainer auch „durchaus möglich.“ Doch aktuell befasst sich die ehrgeizige Endrolath mit dem Training, der neugewonnenen Freizeit und ihrem einjährigen Praktikum, welches sie bald beim Berliner Schwimmteam absolviert. Nach ihrem hervorragenden Abitur strebt die sehbehinderte Schwimmerin ein Studium an: „Sonderpädagogik ist mein favorisierter Studiengang.“ Psychologie sei aber „auch noch im Rennen“. Eines ist für Marlene Endrolath sicher: „Ich will in meinem Job später Menschen weiterhelfen.“
Die Norm für die Paralympics 2021 müsste Endrolath laut Bundestrainerin Schinkitz schaffen. „Tokio wäre zunächst eine Zwischenstation für sie“, sagt Schinkitz, in Paris 2024 könne sie jedoch durchaus schon um eine Medaille mitschwimmen. Die Bundestrainerin sieht Parallelen zwischen Endrolath und Elena Krawzow, die ebenfalls in Berlin trainiert, eine Sehbehinderung hat und 2019 zum zweiten Mal Weltmeisterin über 100 Meter Brust wurde. Bei den Paralympics 2012 in London gewann Krawzow als Newcomerin Silber. In den vergangenen Jahren habe Krawzow „nochmal einen enormen Entwicklungssprung gemacht“, sagt die Bundestrainerin und fügt über Endrolath hinzu: „Das traue ich Marlene in ihrer Startklasse auch zu.“
Quelle: Patrick Dirrigl