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Weltklasse-Athletin Britta Siegers setzt Hoffnung in JTFP
Weltklasse-Athletin Dr. Britta Siegers: 149mal Gold, 1mal Auge in Auge mit Berg-Gorillas und dem weißen Hai
‚Lebenselexier Sport’: Achtmal Gold im Schwimmen bei den Paralympics, viermal Silber und einmal Bronze, vier internationale Tennis-Triumphe und drei weitere Finalteilnahmen, 16 WM-, 13 EM-, und 108 deutsche Meistertitel – Dr. Britta Siegers, die Ausnahme-Athletin und Rekordfrau des Behindertensports, sammelte Medaillen wie keine zweite – und sucht bis heute immer neue Herausforderungen. In ihrer Erfolgsstory tauchen daher auch Berg-Gorillas und Haie auf. Die Lebensgeschichte der Leverkusenerin verdeutlicht, warum ihr die paralympische Nachwuchsarbeit hierzulande so wichtig ist, warum ‚Jugend trainiert für Paralympics’ eine große Chance darstellt und sie sich Fingerspitzengefühl im Umgang mit den jungen Aktiven wünscht.
„Schon als Kind war es mein größter Wunsch, ein Mal in meinem Leben einen direkten Kontakt zu den Berggorillas in Uganda zu bekommen“. Sagt nicht etwa ein ambitionierter, mitteleuropäischer Tierforscher oder Umweltaktivist, sondern eine der weltweit erfolgreichsten Behindertensportlerinnen aller Zeiten: Doktor Britta Siegers aus Leverkusen (149mal Gold bei Paralympics, Welt-, Europa- und offenen deutschen Meisterschaften). Die 1968 im Alter von damals knapp zwei Jahren bei einem Zugunfall schwer verletzte, und seitdem beidbeinig amputierte Rheinländerin konnte im Verlaufe ihres Lebens beinahe zahllose Herausforderungen meistern und Ziele erreichen, an denen die weitaus meisten Nichtbehinderten zweifellos scheitern würden.
Als sie sich den Traum von der Gorillabegegnung im letzten Jahr erfüllte, bedurfte es nach ihrer Aussage rund vier Monaten intensiven Trainings um allen Widrigkeiten – auch jene, die sich für eine beidbeinig Amputierte zusätzlich ergaben – im Regenwald Ugandas zu meistern. Gemeinsam mit vier „wunderbaren Helfern mit Herz“ konnte sie sich dann tatsächlich rund eine Stunde den Gorillafamilien vorsichtig nähern, ja sogar auf Tuchfühlung gehen. „Selbst die Gorillas zeigten sich sehr kooperativ“, erinnert sich an die immer noch faszinierte Siegers an jene einmaligen Momente, in denen die Gorilla-Familie auf einer gut durchdringbaren Lichtung spielten und ihre Anwesenheit akzeptierten. So wie sie in Uganda schier unüberwindbare Hindernisse meistern konnte, genau so unbeirrt, konsequent und bekennend ehrgeizig verfolgte sie ihre Ziele im Berufsleben als auch im Sport – und dies auf allen fünf Kontinenten der Erde. Sie berichtet von ihrem neuesten Hobby, dem Tauchen und über ihre Begegnungen mit einem weißen Hai. Ein weiterer atemberaubender Moment, über den Siegers heute nur sagt: „Haie werden verkannt. Man muss sie entdämonisieren.“ Auch Buckelwalen ist sie schon begegnet. „Beim Schnorcheln.“ Klar.
Britta Siegers ist unermüdlich. Sie schwärmt vom Skilaufen ebenso wie vom Reiten, von intensiven Wettkämpfen mit dem Handbike, von Rollstuhltennis und – natürlich: vom Schwimmen. Das ist für sie seit Jahrzehnten praktisch tägliches Ritual. „Nach ihrer aktiven Zeit“ – diese Formulierung ist auf die gebürtige Leverkusenerin nicht anwendbar.
Wie ist all das möglich gewesen, wie kann eine derart körperlich gehandicapte Frau praktisch alle nur denkbaren Barrieren – auch die selbstgewählten – fast wie selbstverständlich überwinden und auch heute, im Alter von 45 Jahren unverändert immer neue Herausforderungen suchen? „Dafür gibt es zwei entscheidende Gründe: „Ganz zuerst habe ich es meinen Eltern zu verdanken, die mir schon unmittelbar nach dem Unfall praktisch alle machbaren Betätigungen ermöglichten. So konnte ich mit drei Jahren schon schwimmen, bevor ich Laufen lernte. Später dann verhalfen sie mir zum alpinen Skilaufen wie zum Reiten und auch meine Schwimmkarriere mit den ganzen Trainings- und Wettkampfherausforderungen wären damals ohne die liebevolle Unterstützung meiner Eltern undenkbar gewesen“, erklärt Siegers. „Und dann gab es meinen Verein TSV Bayer 04 Leverkusen, den schon zu meinen Anfängen eine in Deutschland beispielhafte Behindertensportförderung auszeichnete. Dass ich bei meinem Eintritt mit 14 Jahren sofort mit nichtbehinderten Gleichaltrigen trainieren und dabei auch ein üblicherweise schwieriges Alter im Kreis Gleichgesinnter überwinden konnte, hatte für mich eine zusätzliche Signalwirkung“.
Hier begegnete sie auch erstmals dem damaligen Paralympics-Sieger Wolfgang Goris, der im Schwimmen als unbezwingbar galt, den sie aber beim ersten gemeinsamen Wettkampf schlagen konnte – das entscheidende Erlebnis für sie und ihr Umfeld, an eine sportlich erfolgreiche Laufbahn zu denken und diese mit allem Ehrgeiz und aller Akribie zu verfolgen. Noch heute ist sie angetan von der Selbstverständlichkeit, mit welcher ihre damaligen Sportkameraden Behinderte aufnahmen und mit ihnen ebenso ungezwungen umzugehen wussten – ein Umstand, der nach ihrer Überzeugung ein elementarer Bestandteil im täglichen Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten sein sollte: „Nichts ist unpassender als die Mitleidschublade, welche viele Menschen meist geniert öffnen, das hilft niemandem, passt nicht zu unserem Alltag und schon überhaupt nicht zum Sport und dem sportlichen Zusammenleben“. Genau diesen unkomplizierten Umgang erfuhr Siegers dann auch im Bayer-Konzern, wo sie während ihres Chemiestudiums Sportförderung. „Mir war natürlich klar, dass mir der Sport viele wunderbare Erlebnisse, Begegnungen und Reisen ermöglichen kann, doch ich wollte auch außerhalb etwas erreichen und so bekam der Beruf rasch die Priorität Nummer eins.“ Nach einem Fernstudium ist sie heute als Patentanwältin für die Lanxess Deutschland GmbH tätig.
Siegers war schon in jungen Jahren sehr entscheidungsfreudig: „Wenn ich etwas wollte, bin ich zunächst selber mit klaren Vorstellungen auf das Ziel los. So konnte ich auch meine Eltern dazu bewegen mich von der Gesamtschule auf ein Gymnasium umzuschulen, wo ich mir eine noch intensivere Vorbereitung für die berufliche Laufbahn erhoffte“. Ihren schon damals trainingsintensiven Sport betrieb sie stets nebenher, war jedoch für das eigene Selbstbewusstsein von großer Bedeutung: „Ich konnte meinen Lehrkräften und dem späteren Arbeitgeber stets nachweisen, dass ich genau so belastbar bin wie andere, dass man mich überall einsetzen kann“, betont die dank ihrer Prothesen laufen konnte. Krücken oder gar einen Rollstuhl nimmt sie lediglich in schwierigeren Situationen zur Hilfe. Das abgedroschene Wort ‚Powerfrau’ – man kommt bei Britta Siegers einfach nicht drum herum. Immer wieder das Bekenntnis, sich ihr Leben lang gerne den Wettkampfgedanken zu verfolgen: „Es machte und macht mir auch heute enormen Spaß, mich auch mit Nichtbehinderten zu messen, egal ob im Beruf oder im Sport. Hier zu bestehen stählt den Charakter und das hat mir auch Wettkampfhärte gegeben“.
Unter all ihren eindrucksvollen sportlichen Erfolgen hat sie einen ganz besonders in Erinnerung: „Es war das Finale über 400 Meter Freistil bei den Paralympics in Barcelona 1992. Nachdem die Australierin Priya Cooper meinen Weltrekord im Vorlauf fast gebrochen hätte, gelang es mir, diese Herausforderin im restlos ausverkauften Schwimmstadion, in Anwesenheit zweier Königinnen und vor einem begeisterten, sehr emotionalen Publikum auf den letzten Metern nieder zu ringen – das war mein sportliches Highlight“.
Als ihr der Schwimmsport langsam zu aufwendig wurde, entdeckte sie bei einem Schnupperkurs das Rollstuhltennis für sich. Zwar musste sie zunächst die Besonderheiten der Rollstuhlkoordination erlernen, verfolgte dieses Ziel jedoch mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit. Nach wenigen Jahren begann sie, international hochkarätige Turniere zu gewinnen – darunter zweimal die German Open – und sicherte sich in der Folge auch in ihrer neuen Disziplin das Paralympics-Ticket. „Genau zwölf Jahre nach Barcelona durfte ich in Athen wieder dieses einmalige Flair von Paralympics aktiv und im Wettstreit mit anderen Sportlern erleben“, so Siegers. Sie schaffte es bis ins Viertelfinale. Wichtiger noch: Sie erlang die Gewissheit, als Quereinsteigerin auch im Rollstuhltennis ihre Leistungsgrenze zu erreichen.
Natürlich ist Siegers dem Behindertensport heute noch verbunden, auch wenn ihr Beruf es nicht mehr zulässt, Funktionärsaufgaben – zwischenzeitlich engagierte sie sich ehrenamtlich im Vorstand der Deutschen Olympischen Gesellschaft für die Region Köln/Leverkusen –, zu übernehmen. Doch nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Geschichte liegt Siegers das Thema Nachwuchsarbeit besonders am Herzen. Sie betont, wie sehr der Sport seinen Beitrag dazu leistet, auch den Alltag zu meistern. Dass es auf Schulebene mittlerweile gelungen ist, behinderte Kinder und Jugendliche bei der Bewegung ‚Jugend trainiert für Olympia’ systematisch zu berücksichtigen, ist in ihren Augen ein elementarer Schritt. „Für Behinderte ist die Gleichstellung im Sport noch nicht selbstverständlich. Es gibt nur wenige Möglichkeiten, zunächst gesichtet und dann gefördert zu werden. So viel Glück wie ich haben nur wenige. Es wäre wünschenswert, wenn jetzt Schulen und noch mehr Vereine nachziehen – hierbei eröffnet ‚Jugend trainiert für Paralympics’ zweifellos zusätzliche Möglichkeiten. Die jungen Behinderten an das Lebenselexier Sport heranzuführen, sollten gerade in ländlichen Gebieten Schulen aufgreifen, nicht überall gibt es nämlich Vereine mit Herz und Kompetenz für den Behindertensport. Noch fehlt es auch an Trainern, welche die jungen Menschen an die Hand nehmen um sie im dualen Zeitalter an die Chancen des Sports im Verbund mit einer Ausbildung heranzuführen“.
Eine Signalwirkung erhofft sie sich daher von der Mitte Mai erstmals unmittelbar nacheinander in Kienbaum durchgeführten Endausscheidung von ‚Jugend trainiert für Olympia und Jugend trainiert für Paralympics’ – beide Events gehen ineinander über: „Wenn es den Organisatoren mit Fingerspitzengefühl gelingt, die gegenseitige Begeisterung und Anerkennung zu wecken, die Herzen der Nichtbehinderten für die Behinderten ohne Mitleid zu öffnen, ist dies ein wunderbarer Schritt, der für die Zukunft der sportlichen Bewegung in Deutschland enorme Bedeutung haben dürfte und gerade dem Behindertensport und seinen Aktiven neuen Auftrieb verleihen wird.“ Sie warnt jedoch gleichzeitig: „Hat man aber Skrupel oder Berührungsängste, sollte man es besser lassen“. Die Gleichbehandlung sei schließlich der springende Punkt.
Zur Veranschaulichung erzählt Britta Siegers von einem weiteren persönlichen Erlebnis: „Ich befand mich vor einiger Zeit auf einem Taucherschiff auf dem Weg von Panama nach Kolumbien. Als die Crew sich mit der Frage befasste, wie man mich im Notfall bei rauer See von dem Hauptboot in ein Begleitboot hinüber bringen könnte, sagte ich ihnen, dass sie ein Seil von Boot zu Boot spannen sollen, ich würde mich dann wie Tarzan hinüber hangeln“. Dass sie ihre abenteuerlich anmutende Idee in einem Test dann gleich reibungslos vorführte, was zur Folge hatte, dass sich letztlich auch die nicht gehandicapten Insassen dieser Methode bedienten, zeigt neuerlich, welche Wechselwirkungen zwischen Behinderten und Nichtbehindertenentstehen kann, wenn der Umgang miteinander nur unverkrampft ist. „Ich brauche niemanden, der glaubt, besser zu wissen als ich, was ich kann“, sagt Britta Siegers. Diese Maxime führt die Ausnahme-Sportlerin durchs Leben – und sie sollte anderen Menschen mit Handicap Mut machen: (Fast) nichts ist unmöglich.
Text: Volker Schneller