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Ein Stück Normalität durch Sport
Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind in Vereinen stark unterrepräsentiert. Die Schwimmerin Elke Borchardt zeigt, wie die Schule zum Sprungbrett in den Leistungssport werden kann.
Für Elke Borchardt war Sport das Glück der Anderen.Seit der Geburt ist ihr rechtes Bein kürzer als ihr linkes, mehr als vierzig Operationen hat sie über sich ergehen lassen müssen, manchmal war sie sechs Wochen am Stück im Krankenhaus, einmal sogar fünf Monate. Irgendwann wurde ihr rechtes Knie steif. An dieser Einschränkung richtete sie ihre Freizeit aus: sie spielte Geige, zeichnete Bilder, strickte Kleidung. Schnelle Bewegungen? Absolut tabu.
Elke Borchardt scheint nervös zu sein, während sie ihre Geschichte erzählt, sie lächelt und staunt. Die 18-Jährige ist eine Symbolfigur für den Behindertensport von Jugendlichen. Für seine wachsende Bedeutung – aber auch für seine noch lange nicht ausgeschöpften Möglichkeiten.
Finanzielles Risiko
Elke Borchardt ist auf die Carl-von-Linné-Schule gegangen, die im Berliner Bezirk Lichtenberg liegt. Die Linné-Schule zählt mit ihren 420 Schülern, hundert Pädagogen und medizinischen Kräften zu den größten Förderzentren für körperliche und motorische Entwicklung in Europa. Im Sommer 2009 war Borchardt von Lehrerinnen zum Schwimmtraining eingeladen worden. Sie stutzte, zweifelte, willigte aber ein. Sie schwamm gut, wurde schneller und schließlich hervorragend. Ein Jahr später nahm sie mit ihrer Schule an einem neuen Wettbewerb teil: "Jugend trainiert für Paralympics". Ihr Team gewann das Finale, der Jubel war groß und so sagt Elke Borchardt inzwischen: "Ich hätte nie gedacht, dass eine solche körperliche Leistung in mir steckt. Mein Knie ist steif und vernarbt, aber Sport ist möglich."
Wenn Norbert Fleischmann solche Geschichten hört, weiß er, dass sich sein Engagement gelohnt hat, der 62-Jährige leitet die Deutsche Behinderten-Sportjugend. Seit Mitte der neunziger Jahre kämpft er für den Wettbewerb "Jugend trainiert für Paralympics", als Vorbild dient "Jugend trainiert für Olympia", der größte Schulsport-Wettbewerb der Welt, an dem hierzulande 800000 Kinder und Jugendliche teilnehmen. Fleischmann hatte hunderte Gespräche geführt, er hat dutzende Versammlungen abgehalten, doch erst als sich die Deutsche Bahn als Sponsor zur Verfügung stellte, willigten Kultusministerien aus zehn Bundesländern ein, "Jugend trainiert für Paralympics" zu unterstützen. "Am Anfang mussten wir als ehrenamtliche Kräfte das finanzielle Risiko tragen", erzählt Fleischmann.
Die Begeisterung überträgt sich auf die Eltern
Das erste Bundesfinale fand 2010 im Sportzentrum Kamen-Kaiserau statt, in Nordrhein-Westfalen, 160 Schüler aus neun Bundesländern traten an, in den Sportarten Leichtathletik, Schwimmen, Tischtennis und Rollstuhlbasketball. In den vergangenen beiden Jahren wurden die Wettbewerbe in Kienbaum bei Berlin ausgetragen, sie wachsen von Jahr zu Jahr. "In der Regel sind unsere Schüler selten in Vereinen aktiv", sagt Fleischmann. "Sportlich werden sie in der Schule sozialisiert. Daher ist ein Wettbewerb mit Erlebnischarakter umso wichtiger."
Birgit Pflug, Lehrerin an der Berliner Carl-von-Linné-Schule, kann das bestätigen: "Sport bietet den Kindern ein großes Stück Normalität." Ihre Kollegin Gabi Fiedler ergänzt: "Sport ebnet den Weg in ein erfolgreiches Leben." Der paralympische Gedanke stärkt die Stellung des Sports an den Förderschulen, denn noch sind Hallenkapazitäten und Sportgeräte für Jugendliche mit Behinderung rar. "Die Begeisterung der Schüler überträgt sich auch auf die Eltern", sagt Birgit Pflug. Fast 620000 Kinder, Jugendliche und Erwachsende mit Behinderung treiben in rund 5800 Vereinen Sport. Tendenz: steigend.
Bildungsreise zu den Paralympics
Nur mit einem starken Nachwuchskonzept können weiter behindertengerechte Schwimmhallen und bessere Transportbedingungen für Rollstühle entstehen. Auch deshalb veranstaltet der Deutsche Behindertensportverband seit 1992 paralympische Jugendlager. In London haben sich im Sommer 32 Jugendliche auf einer solchen Bildungsreise dem Leistungssport genähert: Sie haben Wettkämpfe besucht, aber auch Museen, Schulen und Universitäten.
Die Vereinten Nationen haben 2006 den Begriff "Inklusion" auf die Agenda gesetzt. Inklusion fordert gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderung. In Deutschland trat die UN-Konvention 2009 in Kraft – umgesetzt ist sie noch lange nicht. So werden hierzulande weniger als zehn Prozent der Schüler mit Behinderung an Regelschulen unterrichtet, in Schweden, Norwegen oder Portugal sind es mehr als neunzig Prozent. In deutschen Sportvereinen ist Chancengleichheit auf Teilhabe noch weniger ausgeprägt, Athleten mit und ohne Behinderung trainieren selten zusammen.
Inklusion am Berliner Olympiastützpunkt
Elke Borchardt hat eine der wenigen Ausnahmen kennengelernt. Als eine der schnellsten Schwimmerinnen ihrer Schule hat sie sich für den Berliner Olympiastützpunkt empfohlen. Im Sportforum Hohenschönhausen trainieren Schwimmer mit und ohne Behinderung gemeinsam. Sie haben die gleichen Ansprüche: auf Kraftraum, Videosystem, Physiotherapie, Strömungskanal, Sprintbecken oder Sportpsychologen. Die Sportler schauen bei den drei Laufbahnberatern des Olympiastützpunktes vorbei, die Kooperationen mit Universitäten, Schulen, Ausbildungsunternehmen pflegen.
Elke Borchardt staunt noch immer: "Ich und Leistungssport? Vor einigen Jahren hätte ich das noch für ein Märchen gehalten." Die Paralympics finden wie die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro statt. Eine Teilnahme ist der große Traum von Elke Borchardt. Doch auch wenn sie die Qualifikation nicht schaffen sollte: Durch Sport hat sie gelernt, was in ihr steckt.