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Sport trotz, mit oder wegen Prothese?
Running-Coach Heinrich Popow setzt auf Fitness und Bewegungsfreude
Sollen Menschen, die nach einer Amputation im Alltag auf eine Prothese angewiesen sind, Sport treiben? Für Heinrich Popow, der als Coach für Paralympics-Förderer Ottobock auf der ganzen Welt unterwegs ist, stellt sich diese Frage zunächst mal überhaupt nicht. „Mit einer Prothese zu leben, das ist ja schon Sport“, erklärt er und verweist auf Studien, die belegen, dass der Energieverbrauch schon beim alltäglichen Gehen mit Prothese deutlich höher ist als bei einem Nichtamputierten. Die im Training erworbene höhere Leistungsfähigkeit der Muskulatur, der Gelenke und des Herz-Kreislauf-Systems ist deshalb unmittelbar bedeutsam für die Bewältigung auch des Alltags.
Es geht also um die Gestaltung des eigenen Lebens. Das kann, wie bei ihm, zu Gold bei den Paralympics führen und zum Weltrekord über 100 Meter in der Klasse der Oberschenkelamputierten (12,11 Sekunden). Aber die nationale Talentfindung ist in seinem Konzept allenfalls ein Moment am Rande. Um bei jedem Teilnehmer jedes individuellen Leistungsniveaus die richtigen Tipps geben zu können, hält er die Gruppengröße bei selten mehr als 12.
Die persönliche Verbesserung ist das Ziel. Bei nicht Wenigen bestand sie einfach schon darin, durch mehr Bewegung das entstandene Übergewicht wieder loszuwerden. Wer in den Gesichtern lesen kann, wenn erstmals nach einer Amputation wieder verloren geglaubte Bewegungserfahrungen real erlebt werden, erfährt auch viel über die psychologische Bedeutung dieses Projekts.
Sollen Menschen, die nach einer Amputation im Alltag auf eine Prothese angewiesen sind, Sport treiben? - Wenn sich diese Menschen erkundigen, wird ihnen allzu oft gesagt, das sei nichts für sie, was die Paralympics-Asse da vormachen. Hinter dieser mentalen Bremskraft kann stecken, dass bei einer prothetischen Versorgung die Sicherheit des Menschen mit Behinderung eine sehr bedeutende Rolle spielt. Früher waren Stürze mit Beinprothesen an der Tagesordnung.
Das Thema Sicherheit ist in der Orthopädietechnik nicht ohne Grund bei der Produktzulassung von zentraler Bedeutung. Die technische Entwicklung insbesondere der mikroprozessor-kontrollierten Systeme hat hier gravierende Fortschritte gebracht.
Im Sport ist das Risiko zu stürzen selbstverständlich gegeben. Das spürt der Neueinsteiger. „Deshalb konzentrieren sich viele am Anfang zu sehr auf ihre Sportprothese und wie sie reagiert“, hat Heinrich Popow als Coach zahlreicher Lauftrainings beobachtet. Sein Ziel ist, stattdessen einen natürlichen Bewegungsablauf zu fördern, bei dem der ganze Körper gefordert ist.
Aber wessen Natur ist gemeint? Jeder Mensch ist anders. „Er muss sein individuelles Bewegungsbild entwickeln oder wiederherstellen und sich nicht der Prothese anpassen. Umgekehrt ist es: Die Prothese muss auf ihn angepasst sein. Dann wird sie neben einem Sportgerät gleichzeitig so etwas wie ein neues Körperteil. Es ist gezielt für den Sport ausgelegt. Aber der Lerneffekt, die Prothese ins Körperschema zu integrieren, überträgt sich dann auch auf den Umgang mit der Prothese im Alltag.“
Prothesen für Oberschenkelamputierte müssen im Sport wie im Alltag Knie- und Sprunggelenksfunktionen ersetzen, wenn naturgemäße Bewegungsabläufe möglich werden sollen. Beim Sport geschieht dies durch ein System mit hydraulischem Kniegelenk (z.B. das 3S80 für ambitionierte Freizeitsportler) und der Carbon-Feder darunter. Im Alltag mit seinen ganz unterschiedlichen Herausforderungen ist auch die technische Lösung sehr viel komplexer.
Sollen Menschen, die nach einer Amputation im Alltag auf eine Prothese angewiesen sind, Sport treiben? - Was ist denn nun mit dem Sicherheitsrisiko beim Sport? „Sicher ist jedenfalls, dass ein Leben ohne Sport ebenfalls enorme Risiken birgt. Übergewicht, Herz-Kreislauf-Schwäche, früheres Altern mit all seinen Folgeerscheinungen“, sagt Heinrich Popow. Außerdem schafft gemeinsames Sporttreiben Gemeinschaft. - Und die sollte man sich mal ansehen, wenn irgendwo auf der Welt wieder eine Running Clinic mit Heinrich Popow läuft. You´ll never walk alone!
Zunächst mal aber ist der Nachwuchs an der Reihe: Die Talent days vom 31. Juli bis 2. August 2015 in Duderstadt sind das erste Lauf-Wochenende dieser Art für 11- bis 17-Jährige. Gastgeber sind der Deutsche Behindertensportverband und Ottobock, Coach ist wie immer Heinrich Popow.