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Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch

Expertise „Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch – Internationale Einordnung, Bewertung der Kenntnislage in Deutschland, Beschreibung des Entwicklungsbedarfs“

Hintergrund

Portraitbild Wilhelm Rörig
Wilhelm Rörig, © Christine Fenzl

Nicht zuletzt ausgelöst durch den sogenannten „Missbrauchsskandal“ 2010 und die Debatten am Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ sind in den letzten Jahren vermehrt Diskussionen über Häufigkeitsangaben des sexuellen Missbrauchs in Deutschland geführt worden. Immer wieder wurden Fragen zu Häufigkeiten und validen Zahlen an den Unabhängigen Beauftragten herangetragen, etwa zur Differenzierung nach Geschlecht, zur Häufigkeit von Schutz und Hilfen für Betroffene oder ob Missbrauch in Deutschland zunimmt oder zurückgeht. Bisher können diese Fragen aufgrund der aktuellen Datenlage nicht präzise beantwortet werden. Der Unabhängige Beauftragte hat deshalb eine Expertise zu Häufigkeitsangaben beauftragt, in der die aktuelle Datenlage für Deutschland im internationalen Vergleich dargestellt und Empfehlungen für das weitere Vorgehen aufgezeigt werden sollen.

Ergebnisse

1. Die enorme gesellschaftliche Dimension von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen in Deutschland bestätigt sich auch im internationalen Vergleich:

  • Ein bedeutender Teil der deutschen Bevölkerung leidet unter den Folgen von sexuellem Miss-brauch, die mitunter bis ins hohe Erwachsenenalter andauern. Je nach verwendeten Definitionen und berücksichtigten Aspekten wie Schweregrad (beispielsweise mit/ohne Penetration), Art der sexuellen Handlungen, Ein- oder Ausschluss von sexueller Gewalt durch Gleichaltrige und Fremde oder Altersabstand zwischen Täter/innen und Betroffenen schwanken die Angaben in deutschen und internationalen Studien jedoch beträchtlich.
  • Präzise Angaben zur Häufigkeit sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Deutschland sind aufgrund der vorhandenen Datenlage schwer möglich.
  • Zur großen Diversität der Ergebnisse tragen auch methodische Artefakte wie Rücklauf, Studiendesign, Stichprobenumfang und -gewinnung bei.
  • Vorsichtige Schätzungen zu schweren Formen sexuellen Missbrauchs mit Körperkontakt gehen für Deutschland von einem Anteil im Bereich von 2 % der untersuchten Stichprobe aus (Häuser et al., 2011).
  • Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht in ihren Prävalenzangaben für die europäische Region von Durchschnittswerten um 9 % für sexuellen Missbrauch mit und ohne Körperkontakt aus. Dies würde bei 13 Millionen Kindern in Deutschland über 1 Million betroffene Kinder und Jugendliche bedeuten.
  • Dies bedeutet, dass die Häufigkeit sexuellen Missbrauchs in Deutschland vergleichbar ist mit der Dimension bei Volkskrankheiten des Typ-2-Diabetes.
  • Für Deutschland bewegen sich die Angaben im Gesamtblick über die vorhandenen Studien zwischen niedrigen einstelligen Prozentangaben und Angaben bis zu einem Fünftel der Stichprobe.

2. Trotz schwerer Vergleichbarkeit von Ergebnissen und einer großen Spannbreite an Angaben zur Häufigkeit gibt es sowohl national als auch international übereinstimmende Befunde zu Geschlechterverteilung und Mehrfachbetroffenheit:

Mädchen sind besonders betroffen:

  • Innerhalb der stark schwankenden Häufigkeiten sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen sticht als erhärtetes Ergebnis die höhere Betroffenheit von Mädchen gegenüber Jungen heraus, auf die sowohl in Dunkel- und Hellfeldstudien unabhängig von Design, Stichprobe und geografi-scher Herkunft durchgängig national wie international hingewiesen wird.
  • Zwar mag zu dieser Differenz auch eine höhere Hemmschwelle des Berichtens bei Jungen und Männern beitragen, ein bedeutsamer Teil der Unterschiede dürfte jedoch auf tatsächliche Unter-schiede in der Betroffenheit zurückzuführen sein. 

Sexuelle Gewalt tritt oftmals im Kontext weiterer Gewaltformen auf, findet aber im Verhältnis zu anderen Gewaltformen weniger häufig statt:

  • Internationale wie nationale Studien, die gleichzeitig mehrere Formen von Kindesmisshandlung erfassen, zeigen, dass sexuelle Gewalt kein isoliertes Phänomen ist, sondern die Betroffenen gleich-zeitig oder zeitlich gestaffelt oft verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt sind.
  • Es zeigt sich in Befragungen von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe aus dem medizinischen Sektor oder der Strafverfolgung durchgängig, dass sexuelle Gewalt anteilsmäßig über verschiedene Institutionen hinweg den geringsten Teil der Fallbelastung im Kinderschutz ausmacht.

3. Verschiedene Studien verweisen auf eine Abnahme der Häufigkeit sexuellen Missbrauchs im Vergleich zu den 1990er Jahren:

  • In den Vereinigten Staaten zeigt sich bis 2010 eine markante Abnahme der gemeldeten Fälle sexuellen Missbrauchs um 62 % (Finkelhor & Jones, 2012). Die Abnahme im Hellfeld wird auch durch Dunkelfeldstudien gestützt. Entsprechend gehen Finkelhor & Jones (2012) davon aus, dass prä-ventive Maßnahmen und legislative Anpassungen zu einem verbesserten Schutz beigetragen ha-ben. Auch aus Kanada, Finnland oder Großbritannien liegen ähnliche Trends vor.
  • In Deutschland haben Anzeigen zu sexuellem Missbrauch zwischen 1994 und 2010 um 4,9 % abgenommen. In den letzten Jahren sind sie jedoch weitestgehend auf dem gleichen Niveau geblie-ben. Stadler et al. (2012) verweisen darauf, dass in ihrer Befragung ältere Personen häufiger über Missbrauchserfahrungen berichteten als jüngere Befragte. Insgesamt ist die Datenlage zu Trends in Deutschland jedoch mangelhaft und entsprechend kann die Abnahme in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) auch einem geänderten Anzeigeverhalten geschuldet sein.

Empfehlungen

1. Datenerfassung und Begrifflichkeiten sollten vereinheitlicht werden:

  • Ohne genaueres Wissen um Häufigkeiten bei sexuellem Kindesmissbrauch ist wirkungsvolle Prävention und Intervention flächendeckend nicht durchsetzbar.
  • Fehlen verlässliche und vergleichbare Daten zur Häufigkeit von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen, sind differentielle Aussagen zu unterschiedlichen Formen sexueller Gewalt, zu Betroffenengruppen (ältere oder jüngere Betroffene, Hochrisikopopulation) oder zu regionalen Versorgungslücken nicht möglich.
  • Entsprechend schwanken auch die Schätzungen für Folgekosten.
  • Verantwortliche auf den verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Versorgungssystemen müssen vom Nutzen der Identifizierung von Versorgungslücken überzeugt werden und dürfen nicht durch einen hohen Aufwand für die Datenerfassung und Befürchtungen eines bewertenden Vergleichs von Institutionen (Benchmarking) von der Teilnahme abgehalten werden.
  • Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu verlässlicheren Daten sind einheitliche(re) Begriffe und Definitionen in Forschung und über verschiedene Versorgungssysteme in der Praxis hinweg.

2. Es fehlt an Studien, die Jugendliche direkt befragen:

  • Studien, die Erwachsene retrospektiv zu Misshandlungserfahrungen in ihrer Kindheit befragen, ergeben Informationen zur Häufigkeit in vergangenen Generationen – aber nicht zur aktuellen Häufigkeit von sexueller Gewalt.
  • Nur eine direkte Befragung Jugendlicher ermöglicht eine Einschätzung zur aktuellen Häufigkeit sexueller Gewalt.
  • Erst damit ist ein Vergleich zu laufenden Hilfe- und Schutzmaßnahmen und somit von aktuellem Dunkel- und Hellfeld möglich.
  • Durch direkte Befragung Jugendlicher rücken auch Themen wie sexuelle Gewalt unter Gleichaltrigen und durch die digitalen Medien eher in den Fokus.

3. Studien sollten weitere Gewaltformen berücksichtigen und Hilfen über mehrere Versorgungsysteme hinweg vergleichen:

  • Institutionen im Kinderschutzsystem sind nicht nur mit einer Form der Kindeswohlgefährdung konfrontiert - und Betroffene erleben neben sexuellen Missbrauchserfahrungen oft auch physische und psychische Gewalt in weiteren Situationen. Eine isolierte Erfassung nur von sexueller Gewalt ist daher wenig sinnvoll. Der Auftretenszeitpunkt und die Dauer der Misshandlungserfahrungen im Laufe der kindlichen Entwicklung sowie der Kontext mit anderen Gewalterfahrungen sollte stets beachtet werden.
  • Erst der Vergleich mehrerer Versorgungssysteme im interdisziplinären Feld des Kinderschutzes eröffnet das Potential, Versorgungslücken gezielt anzugehen.

4. Regelmäßiges Monitoring sollte mit einheitlichem Studiendesign durchgeführt werden:

  • Im Rahmen eines von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und auch nach Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen geforderten regelmäßigen Monitorings könnte sich zeigen, ob die eingeleiteten Präventionsprogramme und gesetzgeberischen Maßnahmen zu einer Verringerung der Prävalenz führen und ob gewährte Hilfen und therapeutische Interventionen Folgebelastungen reduzieren.
  • Nur mit einem forschungsmethodischen Zugang, der über verschiedene Datenerhebungen nicht oder nur geringfügig angepasst wird, lassen sich auch verlässliche Aussagen über eine Ab- oder Zunahme von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen treffen.

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Studien und Übersichtsarbeiten, die für die Expertise herangezogen wurden (Auswahl):

Deutschland:
Bundeskriminalamt. (2015). Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland: Jahrbuch 2014. Wiesbaden: Autor.
Häuser, W., Schmutzer, G., Brähler, E., & Glaesmer, H. (2011). Misshandlungen in Kindheit und Jugend: Ergebnisse einer Umfra-ge in einer repräsentativen Stichprobe in der deutschen Bevölkerung. Dtsch Arztebl Int, 108(17), 287-294.
Stadler, L., Bieneck, S., & Wetzels, P. (2012). Viktimisierung durch sexuellen Kindesmissbrauch: Befunde national-repräsentativer Dunkelfeldforschung zu Entwicklungstrends in Deutschland. Prax Rechtspsychol, 22(1), 190-220.
Statistisches Bundesamt. (2014). Kinder- und Jugendhilfestatistiken - Gefährdungseinschätzungen nach §8a Absatz 1 SGB VIII. Wiesbaden: Autor.

International:
Finkelhor, D., & Jones, L. M. (2012). Have Sexual Abuse and Physical Abuse Declined Since the 1990s? Durham, NH: Crimes against Children Research Center.
Sethi, D., Bellis, M., Hughes, K., Gilbert, R., Mitis, F., & Galea, G. (2013). European report on preventing child maltreatment. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe.
Stoltenborgh, M., van IJzendoorn, M. H., Euser, E. M., & Bakermans-Kranenburg, M. J. (2011). A global perspective on child sexual abuse: meta-analysis of prevalence around the world. Child Maltreat, 16(2), 79-101.
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Fachgespräch mit internationalen Experten im Dezember 2014:
Um die Fachöffentlichkeit auf das Expertisenprojekt hinzuweisen und gleichzeitig die Präsenz herausragender internationaler Wissenschaftler zu nutzen und ihre Expertise der Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen, lud der Unabhängige Beauftragte im Vorfeld der Expertise zu einem internationalen Expertengespräch ein. Ziel war die Einordnung der Datenlage in Deutschland in Bezug auf internationales Wissen zur Häufigkeit des sexuellen Kindesmissbrauchs und gleichzeitig die Feststellung von Datenlücken in Bezug auf ein konsequentes Monitoring in Deutschland. Die Ergebnisse des Fachgesprächs sind in die „Expertise Häufigkeitsangaben“ eingeflossen. Weitere Informationen zum Fachgespräch: www.beauftragter-missbauch.de unter Meldungen/Verschiedenes.

Beauftragung der Expertise:
Mit der Erstellung der „Expertise Häufigkeitsangaben“ wurde Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm beauftragt (www.uniklinik-ulm.de/struktur/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatriepsychotherapie.html), in Zusammenarbeit mit dem „Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin“ in Baden-Württemberg (www.comcan.de) und dem Schweizer „Dreiländerinstitut Jugend, Familie, Gesellschaft, Recht“ (http://3li.ch/).
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Expertise „Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch“ zum Download unter https://beauftragter-missbrauch.de/presse-service/hintergrundmaterialien/. Die broschürte Expertise kann unter kontakt@ubskm.bund.de kostenfrei bestellt werden.

(Stand: 22.02.2016)