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Auf dem Weg zu den Paralympics

Vom 10. bis zum 13. Mai 2012 wurde im Bundesleistungszentrum Kienbaum/Berlin zum ersten Mal – offiziell – der Bundeswettbewerb der Schulen ‚Jugend trainiert für Paralympics‘ mit rund 260 Schülerinnen und Schüler mit Behinderung aus ganz Deutschland ausgetragen. Dabei könnte für eine Teilnehmerin der Name der Veranstaltung tatsächlich bald zum Programm werden.

Berlin. Als Nicole Nikoleitzik am Freitagabend die Bühne betritt, wird es still in der Max-Schmeling-Halle. Das Mädchen mit den kurzen blonden Haaren und der geblümten Bluse erzählt, dass sie 16 Jahre und aus Völklingen im Saarland sei, ihre Lieblingssportart ist Leichtathletik. „Für uns Sportler, egal ob behindert oder nicht behindert, ist es wichtig, uns in Wettkämpfen zu messen und uns zu zeigen“, sagt sie. Normalerweise tragen in der Schmeling-Halle die Füchse Berlin ihre Handball-Heimspiele aus. An diesem Abend kommen hier rund 4500 Nachwuchssportler mit und ohne Behinderung zusammen. Denn die Abschlussveranstaltung des bundesweiten Wettbewerbs ‚Jugend trainiert für Olympia“ ist in diesem Jahr gleichzeitig auch die Eröffnungsveranstaltung des Pendants ‚Jugend trainiert für Paralympics‘. Die 16-jährige Nicole ist eine von 230 Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, die in den Sportarten Leichtathletik, Schwimmen, Rollstuhlbasketball und Tischtennis  gegeneinander antreten. In ihrer Eröffnungsrede erzählt sie auch von ihrer älteren Schwester: „Meine Schwester Claudia hat 2008 in Peking an den Paralympics teilgenommen und dort Silber über die 100 m und über 200 m gewonnen. Irgendwann würde ich das auch mal gerne schaffen“.

Die Chancen stehen für Nicole nicht schlecht. Im vergangenen Jahr sprang sie als 15-Jährige bereits 3,98 m, damit wäre sie in ihrer Startklasse T 38 bei den Weltmeisterschaften Sechste geworden. Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, sagt über sie: „Nicole ist dabei, etwas ganz Großes zu werden. Sie ist auf einem sehr guten Weg.“ Bis vor zwei Jahren, erzählt Nicole, sei sie einfach gerne mit ihrer älteren Schwester Claudia durch den Wald gejoggt, eine im Behindertensport international erfolgreiche Athletin. Claudia gehört dem Top-Team des Deutschen Behindertensportverbandes und hat somit gute Chancen bei den diesjährigen Paralympischen Spielen in London teilzunehmen. Wie Claudia hat auch Nicole die Erbkrankheit Ataxie, eine Kleinhirnstörung, die ihre Hände zittern lässt und ihr Gleichgewicht ab und an durcheinander bringt. Im Alter von 14 Jahren stieg Nicole schließlich beim TV Püttlingen ins Training ein. Heute, zwei Jahre später, steht sie dort drei Mal pro Woche auf dem Platz, trainiert Sprint, Weitsprung und Kugelstoßen. Die Spiele in London diesen Sommer kommen noch zu früh für Nicole, doch 2016 in Rio an den Start zu gehen, scheint durchaus realistisch. Ihre Trainerin Evi Raubuch, die auch Schwester Claudia betreut, warnt jedoch vor zu hohen Erwartungen. „Es ist wichtig, Nicole behutsam aufzubauen. Es gab schon Fälle, bei denen 16-jährige an den Olympischen Spielen teilgenommen haben und danach wieder in der Versenkung verschwunden sind.“

Behutsam, aber trotzdem kontinuierlich die eigenen Talente fördern – mit diesem Ziel veranstaltet die Deutsche Behindertensportjugend im  Deutschen Behindertensportverband ‚Jugend trainiert für Paralympics‘. „Die Zukunft unseres Verbandes hängt ohne Wenn und Aber von einer effizienten Nachwuchsförderung ab. Dazu bildet ‚Jugend trainiert für Paralympics‘ einen ganz wichtigen Baustein“, sagt Verbandspräsident Beucher. Daher engagiert sich auch die Deutsche Bahn als Hauptsponsor der Veranstaltung. „Mit unserem Engagement wollen wir nicht nur sportliche Talente fördern, sondern auch über den Sport Schülerinnen und Schülern mit Behinderung helfen, sich in die Gesellschaft zu integrieren“, sagt Dr. Rüdiger Grube, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG. Nach zwei Pilot-Veranstaltungen wurde ‚Jugend trainiert für Paralympics‘ am vergangenen Wochenende zum ersten Mal offiziell und unter dem Dach der Deutschen Schulsportstiftung ausgetragen. Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung aus ganz Deutschland konnten sich für die Wettkämpfe in den Sportarten  Rollstuhlbasketball, Tischtennis, Leichtathletik und Schwimmen qualifizieren. Insgesamt 32 Schulmannschaften aus zwölf Bundesländern traten in Kienbaum gegeneinander an, darunter auch Nicoles Schule, die Förderschule für körperliche und motorische Entwicklung aus Püttlingen.

Trotz der Idee, den Nachwuchs für die Paralympics zu trainieren, ist von Leistungsdruck bei der Veranstaltung in Kienbaum nicht viel zu spüren. Die Atmosphäre gleicht eher der eines Schulsportfestes. „Du läufst jetzt so schnell, als ob du gerade einen Bus verpasst hast“, ruft eine Lehrerin ihrer Schülerin zu, als diese sich an den Start über die 100 m macht. Auch Nicole nimmt die Wettkämpfe locker, scherzt mit ihren Schulkameradinnen und erzählt, dass sie nach dem Mittagessen erst mal Fotos von ihrer Digitalkamera auf Facebook hochladen wolle.

Gleich in vier Disziplinen tritt sie an diesem Wochenende an, Kugelstoßen, Weitsprung, 100 m und 600 m. Nicole ist vielseitig begabt, will und muss sich noch auf keine Disziplin festlegen. Was an diesem Wochenende zählt, ist auch nicht ihre eigene Leistung, sondern die der ganzen Schulmannschaft, die am Ende den fünften Platz belegt. Die 100 m läuft Nicole in 16, 25 Sekunden, die 600 in „irgendwas mit 2 Minuten“, sagt sie. Auch wie weit sie geworfen hat und gesprungen ist, weiß sie nicht genau. Trotzdem, sagt ihre Lehrerin Christine Schwarz, Nicole werde hier in Kienbaum vom Verband beobachtet.

Nicoles Schwester Claudia Nikoleitzik ist an diesem Samstag ebenfalls ins Bundesleistungszentrum gekommen, um mit der Staffel für die Paralympics in London zu trainieren. „Ich bin überrascht, wie weit sie schon gekommen ist und wünsche ihr, dass sie auch einmal die Paralympics erlebt“, sagt die große über die kleine Schwester. Nicole weiß bereits, wann sie wieder nach Kienbaum zurückkehren wird. Ende Mai soll sie wohl zu einer Sichtung eingeladen werden. Es geht um eine Teilnahme an der Junioren-WM in Polen. Für Nicole wäre es der nächste Schritt in Richtung Paralympics.